von Ognobe
«Es waren einmal, ein eingebildetes Huhn und ein dummer Gockel (es könnten in dieser Geschichte genauso gut zwei dumme Hühner oder zwei eingebildete Gockel sein). Das eingebildete Huhn und der dumme Gockel lebten zusammen auf einem Bauernhof und kümmerten sich gemeinsam um ein Ei. Es war ein wirklich schönes Ei. Groß und prächtig, die beiden waren sehr stolz darauf. Am Anfang kümmerten sie sich rührend um das Ei, behandelten es ganz vorsichtig, hegten und pflegten es und schenkten ihm ihre ganze Aufmerksamkeit. Aber wie das manchmal so ist, kehrte auch bald der Alltag ein auf dem Bauernhof und das Gefieder war mit Futtersuche, Stallordnung und Nestplatzsuche beschäftigt. Immer öfter geriet das Ei in Vergessenheit. Und immer öfter stritten sich das eingebildete Huhn und der dumme Gockel. Sie stritten sich über die größten und die kleinsten Dinge. Darüber wer die meisten Körner verdiente, darüber wie der Stall eingerichtet werden sollte, darüber wo der beste Platz für ein Nest sein könnte. Sie stritten und zankten sich den ganzen Tag, das laute Gackern und Krähen war in der ganzen Nachbarschaft zu hören. Dabei kümmerten sie sich immer weniger um das Ei. Und als sie eines Abends zurück in den Stall kehrten, sahen sie, dass nur noch die Eierschalen im Nest lagen. Sofort beschuldigten sie sich gegenseitig, der jeweils andere habe das Ei kaputtgemacht. Die beiden waren zum dumm und zu eingebildet zu merken, dass sich das ein Ei längst in etwas viel Schöneres verwandelt hatte: ein Küken. Ein Küken, das ihnen, bei all dem Gackern und Krähen, davongelaufen war.»
Amira hat die Geschichte zu Ende gelesen, ihre Augen haften fest auf den Buchstaben, sie brennen, füllen sich mit Tränen, betretenes Schweigen.
Da kräht plötzlich ganz laut ein Hahn. Max hat beide Hände in die Seiten gestemmt, bewegt den Kopf vor und zurück und kräht. Amira ist einen Moment ganz verdutzt und bricht dann in schallendes Gelächter aus. «Du dummer Gockel!», ruft sie. «Du eingebildetes Huhn!» gibt er lachend zurück und sie kontert mit lautem Gackern.
Als sich die beiden beruhigt haben, können sie endlich das Gespräch führen, dass sie sich gegenseitig schon lange schulden. Zwischen ihnen auf dem Tisch steht ein Plüsch-Küken.
© Ognobe 2022-08-31