Ich dusche lieber freiwillig

Evelyn Haude

von Evelyn Haude

Story
In einem kleinen Ort in Deutschland 2023

Heute ist der erste Schultag nach den Sommerferien und ich freue mich wahnsinnig darauf, meine beste Freundin Lotte wiederzusehen! Ich habe sie zwar zuletzt vor drei Tagen gesehen, doch das ist kurzzeitig zu ignorieren. Irgendwie fühlt sich heute einfach historisch an. Es ist mein letzter, erster Schultag, denn jetzt gehöre ich zum Abijahrgang! Während mein Gehirn das noch zu verstehen versucht, schlüpfe ich in meine Schuhe, ziehe meinen Helm an, schnappe meine schon gestern gepackte Schultasche und schwinge mich übers Rad.

Es nieselt leicht, doch das stört mich nicht. Mir gefällt der Regen. Danach ist die Luft immer so schön frisch und wenn man Glück hat, erhascht man einen kurzen Blick auf einen Regenbogen. „Regenbogen“, ich sage das Wort laut, ganz langsam und leise, sodass es fast unhörbar ist, doch ich habe es gehört. Nicht nur das, ich habe das Wort gefühlt. Regenbogen, seit letztem Frühling hat das Wort eine neue Bedeutung für mich. Klar, der Regenbogen ist das Symbol der Pride-Bewegung, doch nie war mir das so bewusst, wie in dem Moment, als ich gemerkt habe, dass ich lesbisch bin. Ehrlich gesagt war es gar kein Moment. Es war eine lange Phase von vielleicht und noch länger hat es gedauert, bis ich mich mit dem Wort wohlgefühlt habe. Zuerst habe ich mich als queer bezeichnet und das finde ich eigentlich noch passender. In dem Wort lesbisch fühle ich mich zwar auch widergespiegelt, doch ich weiß nicht, ob es ganz richtig ist. Immerhin könnte ich mir vorstellen, möglicherweise mal eine Non-binary Person attraktiv zu finden oder zumindest so lang they biologisch weiblich ist. Gleichzeitig weiß ich es aber nicht wirklich, da ich noch nie auf eine Non-binary Person stand. Ich könnte es mir nur vorstellen. Macht mich das bi? Ich weiß es schlicht nicht, aber mit dieser Unwissenheit habe ich mich abgefunden.

„Platsch“, ein Auto fährt auf der Straße neben mir durch eine große Pfütze und spritz mich nass. Ein Teil des Wassers landet in meinem Gesicht, wodurch ich nichts mehr sehen kann, also halte ich an. Ich wische mir über die Augen. Sie tun ein wenig weh, doch ich kann wieder sehen. Ich gucke an mir herunter. Ich bin klitschnass. Am liebsten würde ich den/die Fahrer*in des Autos anschreien, doch der/die ist längst weg und geholfen hätte das natürlich auch nicht. Ich reiße mich zusammen und steige wieder auf mein Fahrrad. Weit ist es bis zur Schule zum Glück nicht mehr.

Schon 5 Minuten später stehe ich vor meinem angeschlossenen Fahrrad bei den Fahrradständern meiner Schule. Ich schlängele mich durch die Reihen von Fahrrädern, was durch meinen großen Rucksack nicht gerade einfach ist, aber egal. Ich gehe zielstrebig auf das Schulgebäude zu, schließe meine Hand um den Türgriff und ziehe.

© Evelyn Haude 2023-09-01

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend, Traurig
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