Ich sehe was, was du nicht siehst

von Christina Farthofer

Story

Hier stehe ich, adrett angezogen, so wie man es von mir erwartet, inmitten eines Saales, der heute mit mindestens zweihundert Leuten gefüllt ist. Meine Mundwinkel schnellen automatisch nach oben, wenn mein Gesicht in den Blickfang eines der Gäste gerät. Dabei halte ich den Stiel meines Sektglases derart fest, dass sich meine Fingerknochen weiß verfärben. „Sie sehen so verloren aus. Finden Sie denn nicht, dass dies ein prachtvolles Fest ist? Haben Sie schon eines dieser leckeren Canapés probiert? Mein Geheimtipp sind die Lachsbrote.“ Carmen (Ehefrau Nr. 2 meines Onkels) zwinkert mir aufmunternd zu. Ich lächle wie üblich freundlich zurück und antworte knapp: „Danke, aber derzeit fühle ich mich mit meinem Glas Sekt sehr wohl.“ Zumindest ist Carmen so klug, meinen Plan, den Abend hier alleine stehend zu verbringen, nicht zu durchkreuzen. „Ah, Franziska! Wir haben uns heute noch gar nicht gesehen. Kein Wunder bei diesem Trubel!“ Wieder mir zugewandt kündigt sie ihren Aufbruch an: „Es hat mich sehr gefreut, dich wiederzusehen, Liebes.“ Eigentlich sollte ich froh darüber sein, dass Carmen Franziska vorzog und doch ist es auch nicht wirklich das, was ich will. Schallendes Gelächter, laute Bassmusik, die meinen Puls zum Rasen bringt, ausgelassene Stimmung. Ich beneide meine Schwester als Veranstalterin dieses fulminanten Spektakels nicht im Geringsten. Meine Mutter durchbohrt mich schon eine Weile mit diesem „Bringe dich endlich ein, Kind“-Blick. Ich senke meinen Kopf und banne mir einen Weg in Richtung „Ruhezone“. Sind die Leute wirklich so glücklich oder ist das nur gespieltes Gehabe? Wie kann man sich nur dafür interessieren, ob Marie schon geheiratet hat, Sophie in guter Hoffnung ist und Laura tatsächlich Wilhelm betrogen hat. Ich trage ein Kleid, das ich schon mindestens zehn Jahre im Kasten lagere, währenddessen meine Mutter und meine Schwester jeden Anlass dafür hernehmen, ein neues zu kaufen. Seit ich denken kann, sind unsere Charaktere grundverschieden. Wenn ich meine Schwester und mich vergleichen würde, wäre ich die Maus und sie die Katze. Kalte Luft weht durch mein Haar und kühlt meine heißen Wangen. Der Außenbereich gehört den Rauchern und Turtelnden. Niemand beachtet mich. Sehr gut. Dadurch erspare ich mir weiteren inhaltslosen Smalltalk. Mir entgehen nicht, die unüberhörbaren, aber umso falscher wirkenden Lacher, die höflichen und doch leeren Versprechen, sich bald etwas auszumachen, und die antrainierten Gesichtszüge, die die wahren Gefühle verbergen sollten. Ihre Augen verraten sie alle. Fröstelnd schlinge ich meine Arme um meinen Körper. In dem Moment wäre ich gerne ein Mann in Hosen und Hemd. „Die Abende werden schon frisch. Wenn Sie gestatten, leihe ich Ihnen gerne mein Sakko.“ Rechts neben mir erscheint ein etwas rundlicher Kerl in meinem Blickfeld, der demonstrativ auf sein schwarzes Sakko zeigt. Billiger Flirtversuch oder ernsthafte Besorgnis? „Entschuldigen Sie. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“ Er stockt. Ich ziehe meine Brauen nach oben. „Ähm, ja. Ein wunderschöner Abend, nicht wahr?“. „Ja, sehr.“ Ich tue ihm Unrecht. Dieser arglose Fisch hat sich in gefährliche Gewässer begeben. Viele sind der Meinung, dass Emotionen anderer zu verstehen und wahrzunehmen, eine wertvolle Gabe ist. Was bringt es, diese Fähigkeit zu besitzen, wenn man selbst nicht gesehen wird? Meine Augen suchen die seinen und ich lächle.


© Christina Farthofer 2024-06-17

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional