Ich wollte, aber konnte nicht

neli

von neli

Story

Ich hätte es beinahe gemacht. Zum ersten Mal. Einmal ist immer das erste Mal, und in diesem Fall war es der Inhalt. Brandaktuell, brandgefährlich.

Ich war unterwegs zur ersten Demonstrationsveranstaltung meines Lebens. Gegen den Krieg in der Ukraine.

Allerdings ließ mich das erste Plakat, das ich gesehen habe, wieder umdrehen.

Ja, es hängt an einem einzigen Menschen, dessen Entscheidungen Verheerung, Tod und Zerstörung bringen und einen Flächenbrand von ungeahntem Ausmaß annehmen könnten.

Dessen Verhalten wie abgekoppelt von aller Realität wirkt und das mit rationalen Erklärungen nicht mehr begründbar ist. Und ja – ich gestehe, dass ich mich tatsächlich gedanklich in den abstrusesten Szenarien ergehe, im Hinblick darauf, wie man den akut unberechenbarsten und von jeglichem moralisch-ethischen Ehrenkodex abgehobenen Kriegstreiber unschädlich machen könnte. Wäre er weg, würde der von ihm jahrelang aufgebaute Apparatschick aus willfährigen Schergen umfallen wie eine gut gesetzte Bahn aus Dominosteinen.

Ein weiteres Ja dazu, dass ich mich noch nie in meinem Leben so überfordert gefühlt habe, sobald TV oder Radio aufgedreht sind. Jetzt geht es nicht um einen Krieg in einer weit entfernten Ecke dieser Welt. Der hier bricht direkt ein in die Sicherheitsblase, der ein Leben in materieller, wirtschaftlicher und zwischenmenschlicher Stabilität zugrunde liegt. Das verunsichert und macht unruhig. Man möchte etwas tun. Geld überweisen – die einfachste Übung. Demonstrieren, Solidarität bekunden – den Versuch ist es wert.

Nicht aber, wenn man dann als erstes ein Plakat erblickt, in dem ein Aufruf an die „Dear russians“ gerichtet ist, doch bitte den Präsidenten umzubringen.

Bei einer Demo, in der es um Frieden geht und dann die Aufforderung, zu töten in die Höhe gehalten wird, kann ich nicht mitmachen. Selbst wenn es auf das eine Plakat zig andere gibt, denen jene Art von Solidarität zugrunde liegt, die auch meinem Verständnis entspricht.

Noch nie habe ich eine Zeit erlebt, in der es so viel mehr Fragen als Antworten gibt und noch nie war es wichtiger, sich sehr genau anzuschauen, was genau man sich anschauen sollte.

Fest steht jedenfalls, dass ein Volk, von dem keinerlei kriegerische Signale ausgingen zum Zeitpunkt des Überfalls, gerade einen heroischen antiimperialistischen Freiheitskampf kämpft, aus dem eine der größten humanitären Katastrophen seit 70 Jahren hervorgehen wird.

Noch fester steht, dass man der traumatisierten Zivilbevölkerung helfen wird müssen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Dazu scheint mir die EU willens und bereit.

Da bin ich mit dabei. Sofern es bis dahin noch eine handlungsfähige EU gibt.

Das Rad der Zeit können wir nicht vordrehen, um zu sehen, wie die Welt sich entwickeln wird. Was wir allerdings tun können, ist, darauf zu achten, dass der `Krieg in uns` (Danke, Matrixe, für deine wunderbare letzte Story!) nicht eskaliert.

Womit ich wieder beim Beginn – dem Plakat bin.

© neli 2022-03-06

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