von Fabiennne
Das Bemerkenswerteste mit einem Menschen habe ich in der geschlossenen Station eines Bezirkskrankenhauses erlebt. Dort bin ich Igor begegnet.
Einen Sommer lang bin ich fast jeden Tag dort zu Besuch gewesen. Hineingelassen durch eine doppelte Schließung und später auch wieder so hinausgelassen zu werden, vermittelte per se ein bedrückendes Gefühl. Drinnen eine Welt bunter Charaktere, die alle wohl zwei Dinge gemeinsam hatten: älter und eingeliefert per richterlicher Anordnung, das jedoch wieder aus unterschiedlichsten Gründen.
Igor trug einen Ganzkörperbody. Der war ihm ein wenig zu groß, aber irgendwie stand ihm dieses Kleidungsstück. Nein, es machte ihn nicht lächerlich! Er wirkte darin nur, wie ein zu langgeratener verlorener Teddybär. Igor redete nicht mehr wirklich oder das, was Reden sein sollte, waren leise Tonfolgen, die wie ein Imitieren von Sprache anmuteten.
Und Igor neigte dazu, sich fremde Sachen anzueignen.
Auch die Patientin, die ich besuchte, litt darunter, dass Igor Gefallen an ihrem Rollator gefunden hatte, obwohl er den gar nicht brauchte. Er ging immer noch aufrecht und sehr würdevoll.
Ich hatte mitbekommen, dass einer der Pfleger mit Igor statt Deutsch immer Russisch redete. Zumindest wenn es danach klang, dann schien Igor besser zu reagieren, als wenn er auf Deutsch angesprochen wurde.
Es begab sich, dass Igor sich des Rollators wieder bemächtigen wollte. Ich versuchte ihn langsam und nett in Deutsch davon abzubringen. Kein Erfolg. Igor umklammerte die Griffe des Rollators, die Patientin wurde ganz aufgebracht, ich dazwischen, keine Pfleger in der Nähe. Nicht gut!
Deutsch funktionierte nicht und Russisch kann ich nicht. Und dann kam mir der Gedanke: warum nicht irgendwas auf Französisch nuscheln. Ich merkte, wie Igor sofort reagierte. Fremde Wörter, möglicherweise interessant. Er ließ zumindest den Rollator los. Ging aber nicht weg. Ich versuchte es weiter, Igor mit meiner französischen Nuschelei dazu zu bewegen, in den nächsten Raum zu gehen. Kein Erfolg!
Spontane Idee: Englisch! Haben wir doch vielleicht alle gelernt. Igor reagierte! Blickte mich an, eine Form von Lächeln schlich sich in sein Gesicht und er ging.
Gut für den Moment!
Tags darauf eine ähnliche Situation, wieder ein paar Wörter in Englisch mit der Bitte, den Rollator in Frieden zu lassen sowie zu gehen. Igor reagierte und ging.
Zwei Tage später wurde die Patientin, die ich immer besuchte, in ihrem Zimmer versorgt und ich wartete vor der Türe, bis ich wieder hinein durfte.
In den Momenten kam Igor und wollte sich Zutritt zu dem Raum verschaffen. Ich bemühte mich, ihn davon abzuhalten. Ich versuchte wieder den Kniff mit Englisch. Es funktionierte, Igor ging. Die Pflegekraft hatte das mitbekommen und meinte, wie mir das gelungen sei, weil Igor auf Deutsch nicht reagieren würde und wohl noch Brocken Russisch könnte, was aber nur ein Pfleger beherrschte.
(Ein „Fortsetzung folgt“ ist nötig: siehe Igor Teil II)
© Fabiennne 2021-02-07