von Valentina Weiss
Wenn Kokou etwas genoss, dann war es der Anblick bunter, leuchtender Farben. Natürlich genoss er es auch, Ziegenfleisch zu essen, wie jeder. Ziegenfleisch war ihm fast noch lieber als das mit den Farben. Bunt macht ja schließlich nicht satt. Aber die Erinnerung an sein letztes Ziegenfleisch war schon so lange verblasst, wie aus einem anderem, längst vergangenem Leben. Kokou genoss es auch, seine Ruhe zu haben und zog Freude daraus, die kleinen Eiffelturm-Schlüsselanhänger ganz präzise in Reih und Glied, nach Farben sortiert auf seinem Tuch aufzustellen. Jeder Turm im exakt gleichmäßigen Abstand zu seinem Nachbartürmchen.
Deswegen hasste Kokou seinen Kollegen Yaovi. Seine Eiffeltürme waren meist wild durcheinander gewürfelt. Fast immer schummelte sich ein grünes zu den silbernen Türmchen. Kokou hatte mit Yaovi noch nie mehrere zusammenhängende Sätze gewechselt, war sich aber fast sicher, dass er ihn, seinen ordnungsliebenden Konkurrenten damit provozieren wollte. Somit erklärte er Yaovi zu seinem Erzfeind, ohne dass dieser davon wusste.Obwohl es Kokou auch sehr stolz machte, dass seine Ware viel ordentlicher präsentiert war als die seines Feindes, versuchte er sein Tuch so weit weg wie möglich von ihm aufzuschlagen. Dieser stumme Krieg war der Grund dafür, dass er an diesem Tag viel weiter hinten als gewöhnlich stand und eine ungewöhnliche Beobachtung machte.
Jene Frau, die am Tag davor noch mit perfekt einstudiertem Lächeln für die Kameras posiert hatte, saß auf einer Bank abseits des größten Touristengetümmels und blätterte in einer Zeitschrift. Ohne Kameras und ohne Lächeln. Ganz alleine. Ihr Gesicht war so weiß wie feines Porzellan und so blass, dass Kokou sich fast sorgte. Fast. Doch plötzlich hörte sie auf zu blättern und war einige Sekunden wie versteinert. Dann geschah etwas, von dem Kokou niemals gedacht hätte, dass es möglich wäre: Das Porzellangesicht verlor an Farbe und wurde so blass, dass es, wie eine Wolke, fast durchsichtig war. Eine Träne lief ihr über die wolkenfarbene Wange. Es roch nach Regen.
Ob Touristin oder nicht, Kokou hatte Mitleid und setzte sich neben sie auf die Bank. Sein Blick fiel auf die Zeitschrift in ihren Händen. „Die kurzen Röcke der Herzogin Kate“, stand da als große Überschrift neben einem Foto, dass zweifellos gestern unter dem Eiffelturm geschossen wurde.
© Valentina Weiss 2021-08-14