Internat der Doppelgänger

Alessio Hirschkorn

von Alessio Hirschkorn

Story
In einem Internat

Der Neue ging über die Wiese. Er ging ein kurzes Stück und blieb unsicher im Schatten eines Baumes stehen. Er sah den anderen Kindern beim Spielen zu. Sie schienen sich mit solch einer Leichtfertigkeit immer wieder ins Getose zu stürzten, ohne schamhaft berührt zu sein, dass es ihm ganz unglaublich erschien. Er spürte die Scham, die sie eigentlich spüren müssten, von ihnen abdriften und seine eigenen Beine hoch kriechen. Sokrates stand unschlüssig unter dem Apfelbaum. Es spielte sogar ein Mädchen mit. Frau Meyer. Ein süßes Mädchen war sie nicht, doch war sein frühreifes Gemüt so durchwachsen von Zweifeln bezüglich der eigenen Männlichkeit, dass diese sportliche und blonde Weiblichkeit einen noch schlummernden Bereich in seiner Seele traf, der ihm ungeahnte Entschlossenheit und Reife versprach. Da löste sich eine der überreifen Früchte und fiel genau auf sein Haupt. Erstaunt blickte er auf und sah einen Baum in seiner vollen Blüte. Es war Frühling. Er fasste sich an den Kopf und griff nach einem Teil des noch intakten Apfels und besah ihn sich. Konnte er tatsächlich noch vom Vorjahr sein? Eine Frucht, die den Winter überdauert hat, um nun, während alle anderen Samen des Baumes sich gerade noch entwickeln, hervorzustürzen und herunterzufallen um Erster zu sein im Kreislauf des Lebens? Hinter ihm wurde gelacht. Alexander oder Alex genannt stand mit drei weiteren Jungs ein Stückchen entfernt und lachte ihn an. Einer zeigte auf ihn. Lachten sie über den Zufall, dass ihn eine Frucht aus dem Nichts getroffen hatte, oder waren sie die Täter und bewarfen ihn aus Lust an peinlich berührten Gesichtern? Alex oder Alexander, der Junge mit den Zwei Gesichtern. Oft wusste man nicht, was hinter seinen roten Bäckchen geschah. Kaute er an einem Johannisbeerkernchen herum oder zerbiss er die Knochenreste eines Spareribs. Sein maskenhaftes Gesicht verriet nie, was er dachte und so ruhig und gewissenhaft er sich vor Lehrern und Eltern verhielt, so gegenteilig war sein Verhalten gegenüber Gleichaltrigen. Mit einer Ausnahme: Anita die Hausmeistertochter mit dem harten Blick eines Mädchens das aus der Gosse zu kommen scheint. Vor ihr hatte Alexander oder Alex großen Respekt, der möglicherweise von einer tiefen Angst herrührte, dass sein maskenhaftes Grinsen ihr eben überhaupt keine Angst machte. Anita stand bei ihrem Vater, der das Laub aus dem Gras rechte. Dabei war es erst Frühling. > Das ist unlogisch, wieso ist das da, das darf nicht da sein. Das macht keinen Sinn. Es ist Frühling und nicht Herbst…< >Etwas Offensichtliches zu sagen erfordert Konzentration.< Seine Gedankenkette wurde jäh unterbrochen, als es neben ihm knisterte. Etwas nahm auf ihm Platz. Es war etwa Schulter groß, was nicht heißt, dass er jedem bis zur Schulter reicht, sondern die optimale Größe hat, um auf einer Schulter genügend Platz zum Sitzen zu haben.


© Alessio Hirschkorn 2024-01-23

Genres
Humor& Satire
Stimmung
Komisch, Reflektierend, Lighthearted