von Vanessa Bartsch
Am nächsten Morgen ging alles ganz schnell. Meine Mutter weckte mich, präsentierte mir ihren – mehr als vollgestopften – Tagesplan und bat mich, meinen Vater und sie zu begleiten. Lange musste ich nicht überlegen, denn zwischen einem verlorenen Tag, an dem ich Ray nachtrauerte und mich von meinem alten Leben verabschiedete, da am Folgetag ein völlig neues beginnen würde, und einem Tag, nach dem die Beine schmerzten, weil wir wild durch Hamburg liefen und keine Zeit blieb, sich über irgendetwas Gedanken zu machen, lag die Entscheidung klar auf der Hand.
Doch anders als gedacht, blieb zwischen shoppen, einem Museumsbesuch und einem leckeren Abendessen sehr wohl Zeit, sich über die vergangenen Tage Gedanken zu machen – und das tat ich. Von Minute zu Minute bereute ich meine Entscheidung, Ray gestern so vor den Kopf gestoßen zu haben, immer mehr. Es gab heutzutage so viele Möglichkeiten mit Menschen aus aller Welt in Kontakt zu bleiben und wer weiß – vielleicht verschlug es mich irgendwann ja für immer nach Hamburg. »Julia, ist alles okay bei dir? Du bist so still. Hat dir der Tag nicht gefallen?«, riss mich meine Mutter aus den Gedanken und sah mich besorgt an, während sie ihren Salat sorgfältig auf ihre Gabel schob. Auch mein Vater beäugte mich mit seinem skeptischen Blick von der Seite. »Doch, doch, alles ist gut!«, antwortete ich vermutlich ein Ticken zu hastig, da sich ihre Mienen nicht wirklich entspannten. Doch sie stellten keine weiteren Fragen mehr, wofür ich ihnen sehr dankbar war. Ich lächelte sie zaghaft an, bevor ich wieder in meinen Gedanken versank und das Gespräch meiner Eltern komplett ausblendete. Ich musste Ray wiedersehen, bevor wir abreisten. Ich musste irgendwie nach Ray suchen, um ihm zu sagen, was ich wirklich dachte und was ich wirklich fühlte. Auch wenn das nach hinten losgehen könnte, es war mir wichtig. Die Erkenntnis kam spät – vielleicht sogar zu spät – doch wie sagt man so schön, besser spät als nie. Doch wo fing ich nur an nach ihm zu suchen? Mist. Wieso hatten wir auch nie unsere Nummern getauscht, dann könnte ich ihn jetzt ganz entspannt anrufen. Na ja, ob er nach der gestrigen Abfuhr überhaupt ran gehen würde, war die nächste Frage. Jedoch gerade nicht relevant, da ich seine Nummer eh nicht hatte. Ich musste morgen nach unserem Familientreffen irgendwie in die Innenstadt von Hamburg gelangen. Vielleicht erzählte ich meinen Eltern einfach, dass es mir nicht gut ginge und ich zurück ins Hotel wollte. Ja, irgendwas in dieser Art. Mir würde schon etwas einfallen. Zuversichtlich genoss nun auch ich mein Essen und konnte mich nach und nach in das Gespräch mit einklinken.
© Vanessa Bartsch 2022-08-03