von Annegret Hahn
Das kleine Mädchen erzählt die Geschichte ihres Vaters der alten Waldohreule. Die Waldohreule hört dem kleinen Mädchen aufmerksam zu. Sie sieht die Tränen in den Augen und hört das Zittern ihrer Stimme. Das kleine Mädchen fügt leise hinzu: „Es ist alles kalt. Bei uns zu Hause gibt es Bauen und Technik. Menschen und andere Lebewesen kommen nicht vor. Wenn man im Haushalt hilft oder sich mit Menschen beschäftigt, die Hilfe benötigen, bekommt man einen Platz ganz unten. Jeder sieht zu, dass er diese Tätigkeiten nicht machen muss. Dann bleibe nur ich übrig. Aber außer mir erledigt niemand diese Arbeiten. Hinterher werde ich verlacht, weil ich freiwillig diese Arbeiten ausführe. Auch meine Eltern machen da mit. Ich gebe mir viel Mühe, zu helfen und Spannungen auszugleichen. Ich übernehme alle Arbeiten, die anfallen. Aber es gelingt mir nicht, Frieden und Einigkeit zu schaffen. Nur meine Oma hält zu mir. Sie tröstet mich und zeigt mir meine Stärken. Und: Sie nimmt mich mit zu ihren Kaffeekränzchen. Die Bekannten und Freundinnen meiner Oma waren alle in den 20ger Jahren jung. Meine Oma ist die Mutter meiner Mutter. Die 20ger Jahre waren ganz anders als die Zeit heute. Die Frauen waren selbstbewusst. Sie haben gearbeitet und eigenes Geld verdient. Am Wochenende haben sie sich zum Tanztee verabredet oder waren in Kaffeekränzchen unter sich ohne Männer. Wenn ich mit meiner Oma in die Stadt gehe, ist es, als wäre ich in den 20ger Jahren. Die alten Damen kommen in der Kleidung, die damals modern war. Auf ihren Köpfen tragen sie große Hüte, die genau zu ihren Kleidern passen. Es gibt in der Stadt drei Cafes, die wir abwechselnd besuchen. Die Damenkränzchen sind überall bekannt und beliebt. Dort bin ich integriert und fühle mich wohl. Ich darf einfach mitmachen. Jede der älteren Damen hört mir zu, und ich darf sie fragen, was sie in ihrer Jugend erlebt hat. Dies macht mich sehr reich. Ich verstehe das Leben besser. Ich denke, ich bin reicher als andere. Dennoch tut es mir unendlich weh, mit so vielen Unfreundlichkeiten leben zu müssen. Und es tut mir weh, nicht mitmachen zu dürfen. Über das Erzählen ist es bereits dunkel geworden. Die Waldohreule deutet auf den Mond, der sich am Himmel unter den Wolken hervorschiebt. „Sieh,“ meint die Waldohreule. Dies ist der Weltenmond. Er heißt so, weil er überall von der Erde aus sichtbar ist. Doch überall erscheint er anders. Von hier aus sehen wir ihn als Mondsichel. als zunehmenden Mond, als Halbmond, als Dreiviertelmond und als Vollmond. Dann nimmt er wieder ab, bis er an einem Tag gar nicht zu sehen ist. Dies ist der Neumond. Wenn wir über die Erde fliegen, wie ich dies mit meinen Flügeln tun kann, dann kommen wir eines Tages nach Indien. Dort sieht der Mond nach Neumond wie eine liegende Schüssel aus. Die Menschen opfern dann. Die Gaben sind für ihre Verstorbenen. Wenn der Mond dann zunimmt, sieht es so aus, als ob die Menschen mit ihren Opfern die Mondschale füllen. Die Menschen opfern, bis die Schüssel vollständig gefüllt ist. Dann stellen sie die Opfergaben ein. Sie stellen sich vor, ihre Verstorbenen nehmen die Opfergaben zu sich und werden dadurch satt. Sie sorgen für ihre Verwandten über den Tod hinaus.“ Die Waldohreule verabschiedete sich und schwang sich in die Lüfte, um nach ihren Nestlingen zu sehen.
© Annegret Hahn 2025-02-21