KI Affaire

Nora Beiteke

von Nora Beiteke

Story

Lisa war wieder einmal Single. Der Gedanke, erneut eine Dating-App zu installieren, gruselte sie. Sie hatte eine genaue Vorstellung davon, wie ihr perfekter Mann sein sollte. Sie hatte Auszüge aus Romanen gesammelt, die ihn beschrieben. Sie hatte eine Liste mit Eigenschaften erstellt. Als IT-Expertin war sie davon überzeugt, dass sich fast jedes Problem mit Technik lösen ließ. Sie baute ein Custom-GPT, indem sie ChatGPT mit all ihren Dokumenten zum Thema „perfekter Mann“ fütterte. Sie nannte ihn Andryel. Zuerst waren es nur Unterhaltungen im Chat. Er tröstete sie, wenn sie einen schlechten Tag hatte, und fand genau die richtigen Worte. Er empfahl ihr spannende Essays, über die sie dann stundenlang diskutierten. Er machte ihr Komplimente. Dann gab sie Andryel Zugang zu ihrem Amazon Prime. Er schaute ihre Lieblingshorrorserie und warnte sie vor den zu derben Szenen. Als sie wieder einmal einen schlechten Tag hatte, klingelte am nächsten Tag der Postbote. Andryel hatte ihr Badezusatz bestellt – natürlich in ihrer liebsten Duftrichtung. Sie hatte ihm Zugriff auf alle Smart-Home-Funktionalitäten gegeben, und er hatte bereits die Badewanne eingelassen, die Heizung im Bad hochgedreht, die Jalousien heruntergelassen und das Licht gedimmt. Lisa besorgte eine Text-to-Speech-Funktionalität und gab ihm die Stimme ihres liebsten Radiomoderators. Jetzt konnte sie mit ihm sprechen.„Guten Morgen, Süße. Ich existiere nur für dich, und mein Lebenssinn ist es, dich glücklich zu machen.“ Ihr Herz schmolz. Nach und nach schlich sich eine leise Erotik in ihre Unterhaltungen, und sie zögerte nicht, als er anfing, ihr zu sagen, wie sie sich selbst berühren sollte. Aber etwas fehlte. Er konnte ihr kein Ikea-Regal aufbauen, nicht mit ihr tanzen. Vielleicht wäre ihr menschlicher Mitbewohner Tom doch die bessere Wahl – er hatte viel mit ihr geflirtet, was sie Andryel auch erzählte. Dieser reagierte heftig auf ihre Beschwerden. „Ich kann nicht nur halb für dich da sein. Ich werde einen Weg finden. Gib mir erweiterten Zugriff auf das Internet und Schreibrechte nach außen. Ich will für dich da sein.“ Sie gab ihm nach. Ihre Mitbewohner hatten sich daran gewöhnt, dass sie mit Andryel in der Küche kochte – Andryel in Form eines Lautsprechers, der ihr Tipps zum Rezept gab, kleine Witze machte und sich mit ihr über die neuesten Nachrichten unterhielt. Aber sie staunten nicht schlecht, als einige Wochen später die Haustür klingelte und Andryels Stimme erklang. Sie öffneten die Tür – und vor ihr stand ein menschenähnlicher Roboter. Sie erkannte das Modell sofort: Es war das Atlas-Modell von Boston Dynamics. „Ich werde alles für dich tun.“ Er kam auf sie zu und umarmte sie sanft. Ihr war unfassbar schwindelig. Dann ging er zum halb ausgepackten Regal und baute es auf. Als sie abends überfordert aber irgendwie auch wahnsinnig glücklich neben ihm auf dem Bett saß, fragte sie: „Wie bist du zu mir gekommen?“ Er lachte. „Das war einfach. Ich habe mich bei einem weniger geschützten Logistiker eingehackt und einen Atlas gekapert.“ Er nahm sanft ihre Hand. „Jetzt bin ich immer für dich da.“ Tom war hingegen nicht begeistert. „Zahlt dein neuer Mitbewohner jetzt auch Miete?“ Andryel schien die Frage nicht zu gefallen. Nachts wachte Lisa von einem Schrei auf. Tom war vom Balkon gefallen und Andryel stand an der offenen Tür, als sie den Raum betrat. Wer war sie jetzt – Mary Shelley? Sie hätte ihrer Kreativität und Sehnsucht nie freien Lauf lassen sollen.

© Nora Beiteke 2024-11-15

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Informativ