von Flora_Ska
Ich bin in England. Drei Worte: Freude schöner Götterfunken.
Spätabends wurden wir, nach einem gefühlten ganzen Tag im Flugzeug, mit einem Pick up-Bus zu unserer Gastfamilie in Canterbury gebracht. Da sagte Marie, meine beste Freundin, Klassenkameradin und Zimmergenossin: „Das ist hier so ’ne Gegend, da schrei ich und mich hört keiner.“ und „Da kann jeden Moment Jack The Ripper aus dem Gebüsch springen!“ Ich wollte gar nicht mehr aus diesem Bus RAUS.
Bei der Ankunft (wir beide waren die letzten, die abgesetzt wurden) sah ich durch das Fenster einen ca. 17Jährigen, weshalb ich perplex war (da in unserer Familienbeschreibung nichts von Teenager-Söhnen stand und ich nicht daran dachte, dass das ein weiterer Schüler sein könnte) und total verwirrt sowieso, als ich, von Marie vorgeschickt, die Schwelle betrat. Ich bekam aufgrund der bizarren Situationskomik einen TOTAL peinlichen Lachkrampf, was die höchstens 25jährigen Gasteltern wohl sehr verschreckte. Man verwies uns daraufhin auf unser Zimmer, wo wir uns umgeben von Babyfotos und alten Puppen fanden. Das kann einem richtig Angst einjagen, vor allem, wenn man die Babies noch nicht in echt gesehen hat. Dann putzten wir uns im Bad – der Boden war nass, in der Wanne noch Wasser, Klospülung kaputt – die Zähne, und während die von uns am Klo war, hielt die andere von außen die Tür zu (denn die konnte man nicht absperren geschweige denn überhaupt schließen.) Zurück in unserem Zimmer stellten wir fest, dass wir weder Mistkübel noch Steckdose hatten und fühlten uns sehr unwohl.
Am nächsten Tag nach der Schule wollte Marie unbedingt was von den Kartoffeln haben, die unsere Gastmutter Sam im Ofen hatte, als wir heimkamen, doch es war nicht klar, ob die für uns gedacht waren oder nicht. Also ging ich duschen und kurze Zeit später kam Sam rauf und verkündete, das Essen sei fertig. Maries Worte dazu: „Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo eine gebratene Kartoffel her.“
Und das war mit Abstand das peinlichste, unkommunikativste, unangenehmste und langweiligste Abendessen, das wir beide je erlebt haben. Der 17jährige schwedische Austauschschüler versuchte hochkonzentriert, sein Essen so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und starrte nur apathisch auf seinen Teller, der Vater fraß sich voll und drückte ab und zu die 3jährige Tochter, die nicht essen wollte, in den Stuhl zurück, die Mutter saß da wie eine traumatisierte Löwin, die überhaupt nicht wusste, was sie tun sollte, als der einjährige Sohn zu weinen anfing, Marie blickte alle dreißig Sekunden dezent auf die Uhr und ich unterdrückte einen weiteren hysterischen Lachkrampf, der die Familie bestimmt erneut sehr verstört hätte. Umso größer unsere Erleichterung, als der Vater meinte, wenn wir fertig wären, könnten wir natürlich gehen.
Während des Essens hat NIEMAND GEREDET. Und in unserer Beschreibung der lieben Familie stand schwarz auf weiß: „They enjoy talking to students from other countries.“
© Flora_Ska 2020-09-08