Kommst du morgen wieder?

Tamhel

von Tamhel

Story

Morgens im Büro frage ich meine Kollegin: „Was kannst du mir über Frau S sagen?“ Nach kurzem Überlegen skizziert sie mir die bisherige Therapie. Ich erfahre, dass Frau S noch sehr schwach auf den Beinen ist und auch das “bessere Bein“ Probleme macht. Anschließend lese ich im Computer noch einige Eckdaten:

Frau S. – 86 – distale Femurfraktur, operativ versorgt, Nachbehandlung mit Knieorthese – vor dem Akutereignis selbstständig, seit ca. 3 Monaten im Krankenhaus, wegen diverser Komplikationen – Ziel: Rückkehr in die Häuslichkeit. Das Übliche also. Ich bin gespannt auf die Person die sich hinter diesen Daten verbirgt.

Ich klopfe an die Türe von Frau S, trete ein und sehe mich einer älteren Dame im Rollstuhl gegenüber. Die Beine so kurz, dass sie nicht annähernd den Boden berühren. Der Rechte auf einer gewöhnlichen Fußstütze, der Linke auf einem Ausleger ca. im 45-Grad-Winkel. Unter der Sitzfläche der Katheterbeutel und in ihrer Nase eine Sauerstoffbrille. Frau S sieht mich aus lebendigen Augen skeptisch an. Den Blick bekomme ich häufig in letzter Zeit und ich kann es den Patienten nicht verdenken – Haare die kreuz und quer vom Kopf abstehen, eine Maske die 2/3 meines Gesichts verdeckt und knapp darüber meine Augen-kein Vertrauen erweckender Anblick.

Ich gehe neben ihr in die Knie, damit sie mich, gut hören kann: „Hallo, ich bin Tamara von der Therapie. Ich würde gerne das Aufstehen üben.“ Ein Stöhnen entfährt Frau S, ehe sie antwortet: „Das ist so anstrengend, aber was muss, das muss.“ Solche Ehrlichkeit bringt mich zum Lachen.

„Gut dann legen wir los. Wo ist denn Ihr Rollator?“ Suchend sehe ich mich im Zimmer um, doch finde ihn nicht. Mit einem schelmischen Leuchten in den Augen erklärt sie mir, dass das teuflische Ding im Bad steht.

Nachdem ich das „Ding“ geholt habe, beginnen wir. Die Anstrengung steht ihr ins Gesicht geschrieben, doch sie kämpft sich immer wieder aus dem Rollstuhl hoch und steht mit zitternden Beinen, sogar ohne Festhalten.

Während einer Verschnaufpause erzählt sie mir von ihrem Sturz, dass sie immer gerne unterwegs gewesen sei und unbedingt wieder auf die Beine kommen möchte. Ich lasse sie erzählen und frage, einem Bauchgefühl folgend: „Frau S kann es sein, dass Sie sich selbst noch viel jünger fühlen, als Ihr Körper ist?“ Kurz schimmern Tränen in ihren Augen, doch sogleich zeigt sich ein Lächeln auf ihren Lippen: „Ja, da hast du Recht. Ich will unbedingt aus diesem Ding, aber es ist so furchtbar anstrengend. Alles tut mir weh.“ „Dann werde ich versuchen, Ihnen dabei zu helfen.“ Sie lächelt mich an und macht sich erneut bereit zum Aufstehen.

Nach der Therapie helfe ich ihr aufs Bett. Erschöpft, aber mit einem Lächeln liegt sie da – keine Spur von Skepsis mehr in den Augen. Wir plaudern noch kurz über Ihre Familie, denn am Nachttisch steht ein Bild von ihr, mit Kindern, Enkeln und Urenkeln – den Jüngsten (4 Wochen) hat sie noch nie gesehen.

Als ich mich zum Gehen wende, höre ich sie sagen: „Kommst du morgen wieder?“

© Tamhel 2020-04-28

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