Dies ist eine Frage, die mir oft im Alltag begegnet. Als Reisende. Oder hier in Berlin, wo ich inzwischen lebe und wo sich die Kulturen kunterbunt mit Subkulturen vermischen. Das Thema “Cultural appropriation” ist laut in Berlin. Berlin ist generell sehr laut. Und bunt eben. Und das ist ja auch das Schöne: dass hier so viele verschiedene Menschen, Kulturen und Ansichten leben und aufeinander treffen.
Wie viel habe ich von anderen Kulturen lernen dürfen! Dass Zeitverständnis subjektiv ist, dass Religion oder Familie anderswo manchmal einen ganz anderen Stellenwert haben… Oh – die Liste ist lang. Doch auch praktische Dinge habe ich lernen dürfen. Praktische Dinge, die ihren Ursprung eben oft in einer ganz anderen Kultur haben. Traditionelle Stammestänze verschiedener Völker beispielsweise. Und wie diese ihre Bewegungen aus alltäglichen Bewegungen ziehen, wie Kampfesgesten oder Bewegungen, die Menschen bei der Ernte machen. Karate und Lehren des Kampfsportes. Oder die Entspannung, die Yoga oder Meditation mit sich bringen können. All dies kam durch andere Kulturen zu mir und nach Deutschland.
Auch beim Feuertanz stammen viele Tools und Bewegungsabläufe traditionell aus anderen Kulturen. Poi zum Beispiel. Das sind zwei (Feuer-)Bälle an zwei Seilen, die um den Körper geschwungen werden.
So dachte ich. Bis ich eines Besseren belehrt wurde.
Bis ich nämlich auf eine Dame traf, die mir unmissverständlich klarmachte, dass sie, als gebürtige Māori, nicht damit einverstanden sei, dass Poi als Zirkus- und Feuertanz-Element benutzt werden. Ich hakte nach und sie erklärte mir, dass Poi traditionell aus der Māori-Tradition stammen und dort sehr wichtig seien. Im Feuertanz wären die Poi selbst jedoch von anderer Form, die Bewegungen seien abgewandelt und doch bediene man sich dem traditionellen Namen, was die Bedeutung verfälsche.
Dass mit dem Namen und der Bedeutung verstand ich. Ich fragte sie aber trotzdem, ob dies nicht bei allen Sport- oder Kampfkunstarten, ja eigentlich bei jeder Art von Kunst der Fall sei. Hat nicht alles einen Ursprung und wurde dann weiterentwickelt? Dürfe man nur Yoga machen, wenn man in Indien geboren sei? Was bräuchte es, dass eine kulturelle Aneignung zur kulturellen Wertschätzung werde? Genüge es, sich der Tradition bewusst zu sein und diese zu ehren? Oder wie sonst könne es Entwicklung und Voneinander-Lernen geben? Die Tradition zu sehen, zu wahren und zu ehren und sich selbst kritisch zu hinterfragen – das sollte selbstverständlich sein. Und so war ich froh, dass die Dame mich auf meine Wissenslücke hinwies. Doch eine Kunst oder eine Sportart nicht erlernen zu dürfen, nicht abwandeln und weiterentwickeln zu dürfen, da man in einer anderen Kultur geboren ist… Kann das die Lösung sein?
Wir kamen in diesem Gespräch zu keiner Lösung und noch heute stelle ich mir immer wieder die Frage: Wo hört kulturelle Aneignung auf und wo fängt kulturelle Wertschätzung an? Oder ist es umgekehrt?
© Leonie von Hartmann 2023-01-28