Kurzhaarschnitt-Trauma

Melly Schaffenrath

von Melly Schaffenrath

Story

Ich wollte eine Geschichte über Friseurbesuche schreiben. Ich wollte darüber schreiben, warum ich so ungern zum Friseur gehe. Und irgendwie hab ich festgestellt, dass es nicht „Eine“ Geschichte gibt. Wenn ich so darüber nachdenke, ist es kein Wunder, dass ich Friseuren nicht traue. Ich bin quasi Friseur-technisch mehrfach traumatisiert… aber fangen wir bei meinem allerersten schrecklichen Friseurbesuch an. Damals, als ich 9 Jahre alt war …

„So, Schluss jetzt. Mir reichts. Wenn du nicht fähig bist, deine Haare zu waschen, dann lass ich sie halt abschneiden.“, schimpfte meine Stiefmutter. Ich hatte damals lange Haare bis zur Mitte meines Rückens. Meine Stiefmutter war der Ansicht, dass ein Kind mit 9 Jahren so selbstständig sein muss, dass es ohne Aufforderung die Haare wäscht. Ich konnte zwar in dem Alter den Haushalt großteils selbstständig schmeißen und mich nebenbei um meine kleinen Brüder, 1 und 5 Jahre, kümmern, ebenso konnte ich in der Firma und am Bauernhof mithelfen, aber das mit dem „regelmäßig Haare waschen“ bekam ich irgendwie nicht hin. Ich dachte einfach nicht daran. Jedesmal gab es ein riesen Theater deshalb und nun schien meine Stiefmutter die Schnauze voll zu haben. Ich heulte und bettelte, aber ich wusste: Es gab kein Erbarmen.

Ich wurde zum Dorf-Friseur gezerrt. „Abschneiden. Kurzhaarschnitt.“, befahl meine Stiefmutter der Friseurin. Ich saß da und weinte. Meine schönen, langen Haare! Ich wollte das nicht! Die Friseurin wollte das auch nicht. Ich weiß noch, dass sie lange auf meine Mutter eingeredet hat, dass man doch „nur schulterlang“ abschneiden könnte oder, oder, oder. „Entweder Sie schneiden die Haare jetzt ab oder ich fahre einfach woanders hin.“, blaffte meine Stiefmutter. Tja, half wohl alles nix.

Ich weiß nicht, wem es mehr wehtat: Der Friseurin oder mir. Strähne für Strähne wurde abgeschnitten, die langen Haare fielen nach und nach auf den Boden. Ich saß während der ganzen Prozedur schweigend da und weinte. Weinte um meine schönen, langen Haare. Und weil ich der Friseurin so leid tat, hatte auch sie Tränen in den Augen. Das Ergebnis: ein altmodischer Bubi-Kopf. Mein Stiefmutter lachte und schien zufrieden. Erbarmen? Fehlanzeige.

Es dauerte eineinhalb Jahre, bis meine Haare wieder nachgewachsen waren. Über ein Jahr lang wurde ich wegen meiner Frisur in der Schule gehänselt. Über ein Jahr lang wurde ich immer wieder von Fremden für einen Jungen gehalten, was gerade in dem Alter sehr kränkend sein kann. Über ein Jahr lang schämte ich mich bei jedem Blick in den Spiegel. Und Haare waschen musste ich trotzdem.

Wenn ich heute Frauen mit frechen Kurzhaarfrisuren sehe, dann beneide ich sie. Es gefällt mir unglaublich gut und ich bewundere sie für ihr Selbstbewusstsein. Aber für mich selbst kommt kein Kurzhaarschnitt in Frage. Alles in mir sträubt sich dagengen. Weil: Ich hab ein Kurzhaarschnitt-Trauma.

Foto: unsplash, Guilherme Petri

© Melly Schaffenrath 2020-05-25