Lassen sich Bäume wachsen?

Weiß

von Weiß

Story

Wie Keramik glänzte sein Arm in den aufsteigenden Sonnenstrahlen: ein milchiges Matt. Voller Elan stieß er in den moosig beflechteten Wiesenboden, um sich die begehrten Ressourcen zu holen. „Ich weiß genau, wie du dich fühlst“, seufzte ich durch die betauten Halme hindurch. Auch wenn die Kühle der Nacht längst verdrängt wurde, hatte sie ihre Spuren hinterlassen. Schlieren des Frühnebels waren ihre Zeugen.

Meine Knie knackten, als ich mich aus der Hocke erhob. Ich zog mir die Decke zurecht, näher zum kleinen Kerl, damit wir uns etwas Gesellschaft leisten konnten. Nach etwas Altersgestöhne hatte ich mich eingefunden. Gedämpft nahm ich die Unebenheiten des Bodens wahr: Ein morscher Zweig drückte in meinen Unterbauch, während ich meinen Gefährten betrachtete. Die beiden Hälften seiner Schale formten einen Spalt. Ehemals mit glorreichen Visionen seiner Zukunft befüllt, war es nun ein finsterer Hohlraum.

„Da wollte man sein Leben lang ein Nüsschen sein…“, murmeln ich, während ich mir vorstellte, welche Ziele er verfolgt hatte. Gedankliche Bilder formten sich: die größte und härteste Nuss aller Zeiten. Ja, das war es wohl, wonach er sich gesehnt hatte. „…und dann zerplatzt einem die Schale wie ein Traum“, verfiel ich sogleich in Nostalgie, „Weder das, was man sein wollte, noch das, was man sein will.“ Weder Nuss noch Baum.

„Und bevor man der Baum ist, der man sein will, ist man eine Massivholz-Esstischplatte“, resignierte ich, bevor ich schweigsam dalag. Erst diese gedankenlose Niedergeschlagenheit öffnete mich für die Geräusche der Natur. Sie flüsterte zu mir: „Hm… Was sagst du?“ Ich drehte mein Ohr Richtung Erdreich. Es klang nach einem hohen Pfeifen: Walnuss-Gesang. „Meinst du wirklich?“, entkam mir zweifelhaft. Womöglich lag es tatsächlich nur an der Perspektive. Immerhin starrte ich gerade in feuchten Dreck und geplatzte Träume.

Einsichtig stemmte ich meinen Ellbogen in die Decke und ließ mich auf den Rücken rollen. Über mir offenbarte sich die andere Seite: Die Kronen meterhoher Bäume ästelten sich durch den Wind und versetzten der kalt blauen Leinwand einem Klecks Leben. „Meine Güte. Das ist ja noch deprimierender“, ließ ich mich vom Anblick erdrücken. Vorhin die Schalenscherben vor Augen waren es nun die Erfolge anderer.

Wieder pfiff es, nachdrücklich. *Seufz* Ich gab nach: „Vielleicht hast du ja recht.“ Vielleicht sollte ich aufhören, zu glauben, ich könne meinen Ansporn einholen. Vielleicht bereitet er mich einfach darauf vor, die nächste Schale zerplatzen zu lassen: ein Fingerzeig und nicht mehr. Ich hatte noch nie daran gedacht, dass Sehnsucht etwas sei, was man sich erdenke. Doch es macht Sinn: Bei all dem Ersehnten, war es im Kern immer dasselbe: Ich, der eine Richtung zum Ziel erhob.

Konnte es sein, dass Bäume gar nicht das Wachsen anstreben? Je länger ich darüber philosophierte, desto attraktiver schien mir der Gedanken: „Was, wenn man sich einfach wachsen lässt?“

© Weiß 2023-02-18

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