von Elke Steiner
Sonntagmorgen. Ich sehe in den Spiegel. Schon wieder ein paar weiße Haare mehr. Der Haaransatz sieht mittlerweile aus wie ein Schneefeld. Und diese Faltenlandschaft? Okay, Lachfalten sind willkommen, aber die anderen? Nach 3 Schwangerschaften ähnelt mein Körper etwas einer Sanddünenlandschaft. Und die Augenringe. Ich schließe meine Augen.
Mit 45 beginnt man intensiver über das Leben nachzudenken, zu reflektieren. Besonders über das, was man nicht mehr möchte. Das geht vom Hausrat bis hin zu Freunden, die eigentlich keine sind. Davor dreht sich alles um Nest bauen, einrichten, aufbauen, Kraft und auch Lebenszeit scheinen unendlich zu sein … jetzt ab der Lebensmitte geht es immer mehr um die Essenz, das Hier und Jetzt. Man schätzt die guten Momente, die kleinen Erlebnisse, den einzelnen Tag. Vielleicht ist die Lebensmitte schon erreicht oder gar überschritten? Dankbarkeit für alles Geschehene, ja sogar – in gewisser Weise – für die Stürme im Leben und die Regentage. „Gewitter ziehen vorüber. Du darfst nur nicht in deinen nassen Sachen im Regen stehen bleiben!“ sagt mein Mann. Sie tragen zum Charakter bei, verändern Dich und Deine Sichtweise auf Menschen und das Leben selbst. Jeder hat seine ganz persönliche Geschichte, keiner auf der Welt dieselbe. Unsere Erlebnisse prägen uns. In jeder Zelle von uns steckt die Geschichte unserer Ahnen und jeden Tag kommt ein Stück von uns dazu. Das Schöne speichert man gerne, das weniger Schöne kommt ganz nach hinten in die fest verschlossenen Erinnerungsladen. Und trotzdem ist alles da und all das bist Du. Befreiungsschläge, Einsamkeit, Heldenreisen, Abenteuer, Liebe, Schicksalsschläge, Verletzung und Veränderung, eine Reise die man ohne Kompass macht, ohne Bedienungsanleitung fürs Leben ohne Navi. Wie auf einer Kugelbahn. Mal sind Engstellen, steile und gefährliche Passagen oder so flache, dass man meint zu stehen und einfach nicht von der Stelle kommt. Und wenn man die Richtung zu stark selbst bestimmen möchte, wirft es einen aus der Bahn. Bis man die richtige Spur findet und wieder Lauf bekommt. Tränen kullern über meine Wangen, mit Schwindel im Kopf zieht plötzlich Vergangenes in rasender Geschwindigkeit vorüber, wie ein Orkan – eine Kurzfassung meines bisherigen Lebens – eine Art „was bisher geschah“ bevor die nächste Serie beginnt. Menschen, Orte, Erlebnisse, Emotionen alles rast vorbei. Schönes, Schlechtes, Altes … da verlangsamen sich die Bilder und enden im Hier und Jetzt, meinen Lieben, die mich anstrahlen.
Ich atme tief durch, öffne meine Augen und betrachte wieder mein Spiegelbild. Eine völlig andere Frau sieht mich an. Ich sehe keine weißen Haare mehr, keine Falten, keine Problemzonen. Ich sehe eine Frau, die schon vieles erlebt und immer wieder Mut und Vertrauen in das Leben gefunden hat, auch wenn sie keinen Boden mehr unter den Füßen spürte. Eine Frau, die gelernt hat für ihr Leben zu kämpfen. Sie ist stark, ihre Augen sind klar. Sie beginnt zu lächeln.
© Elke Steiner 2019-04-12