von Carina Senger
Paris bietet für Au-pairs bei der Unterbringung eine Besonderheit: die sogenannten Chambres de Bonne. Diese alten Dienstbotenzimmer befinden sich im obersten Stockwerk und sind nur wenige Quadratmeter groß. Dafür liegen sie außerhalb der Wohnung der Gastfamilie und besitzen einen separaten Eingang. Viele Au-pairs waren von der damit verbundenen Freiheit begeistert, ich bevorzugte hingegen ein Zimmer in der Wohnung meiner Gastfamilie. Schließlich wollte ich den Familienalltag miterleben. Wie sollte das funktionieren, wenn ich mich nur zum Arbeiten in der Wohnung aufhielt? Und würde ich den beengten Raum eines Chambre de Bonne nicht als bedrückend empfinden?
Mit meiner Gastfamilie verstand ich mich auf Anhieb. Doch als sie mir mein Zimmer zeigten, verließen wir die Wohnung und stiegen in den 7. Stock. Außer einer Toilette besaß das Zimmer alles: eine eigene Dusche, einen kleinen Herd, einen Kühlschrank, ein Waschbecken und natürlich ein Bett und einen kleinen Klapptisch. Ich konnte mir sofort vorstellen, dass ich mich hier wohlfühlen würde. Trotzdem blieben die Zweifel. War ein Zimmer außerhalb der Wohnung der Familie nicht ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie ihr Au-pair nur als Arbeitskraft betrachteten?
Trotz meiner Bedenken zog ich bei dieser Gastfamilie ein. Wenn ich morgens mein Zimmer verließ, dachte ich allerdings genau nach, ob ich nichts vergessen hatte. Denn zwischen der Wohnung und meinem Zimmer lagen sechs Stockwerke und kein Lift. Ansonsten gewöhnte ich mich rasch daran, abends die schmale, knarzende Holztreppe in den siebten Stock hochzusteigen. Das Treppenhaus war schlicht und die Farbe blätterte an einigen Stellen von der Wand. Der Gegensatz zu der breiten, mit einem roten Teppich bedeckten Treppe, die zu den Wohnungen führte, war frappierend.
Ich brauchte nicht viel Fantasie, um mir vorzustellen, dass die Unterschiede in früheren Zeiten noch extremer waren. Damals gab es in den Dienstbotenzimmern weder eine Heizung noch fließend Wasser. Im Winter waren die Zimmer klirrend kalt und im Sommer heizten sie sich auf ein schier unerträgliches Maß auf. Dennoch war das eigene Zimmer unterm Dach eine deutliche Verbesserung für die Dienstboten. Zuvor mussten sie häufig auf einem Klappbett in der Küche oder einem Strohsack in der Badewanne schlafen. Das eigene Zimmer erlaubte ihnen einige Stunden Freiheit pro Tag und ein Privatleben.
Auch ich litt im Sommer darunter, dass sich mein Zimmer in einen Backofen verwandelte. Ansonsten hatte mein Leben im Dienstbotenzimmer mit den widrigen Umständen früherer Tage glücklicherweise nichts gemein. Das hing auch damit zusammen, dass ich mich nur selten in meinem Zimmer aufhielt. Wenn die Familie sich nach dem Abendessen in der Küche versammelte oder ein Fußballspiel im Fernsehen lief, war ich immer willkommen. Und auch, wenn ich eine Angestellte war, behandelten sie mich wie ein Familienmitglied.
© Carina Senger 2021-05-19