Leben, um davon zu erzählen

Thomas Schützenhöfer

von Thomas Schützenhöfer

Story

Nach der Matura ist vor dem Zivildienst, dazwischen lagen in meinem Fall aber mehrere Monate. Ich kam zu einer Anstellung als Arztgehilfe in einer großen Ordination am Land. Die täglichen Arbeiten bestanden meist aus dem Einsortieren der Medikamente und dem Einscannen von alten Befunden.

Nachmittags, nachdem nur noch sporadisch Leute kamen, verbrachte ich lange Stunden vor dem Bildschirm. In dem offenen Behandlungsraum gab es auch drei Stationen für Patientinnen, denen Infusionen gelegt wurden. Zweimal die Woche war dieselbe ältere Dame zu Gast, um ihr Flascherl zu bekommen. Ihre zierliche Gestalt wirkte höchst zerbrechlich, ich schätzte sie auf deutlich über 80. Auch die überaus emphatische Ärztin sprach in einer Lautstärke mit ihr, welche meine Vermutung untermauerte.

Also saßen wir dann da zu zweit in dem großen Raum. Sie wollte nicht, dass ihr Platz mit den verschiebbaren Vorhängen abgedunkelt wurde, sie wollte lieber mit dem jungen Herrn da sprechen. Während ich meine Dokumente einscannte, hatte ich eine recht gesprächige Zuseherin. Sie erkundigte sich anfangs über die notwendigsten Dinge, sprich wie ich heiße und was ich da so mache. Außerdem stellte sie die wohl schönste steirischste Frage von allen: „Zu wem gherstn?“ Ihr sagte der Name etwas, konnte sogar die Region halbwegs zuordnen.

Nach und nach unterhielten wir uns immer mehr, sie fragte nach meinen Plänen und ich nach ihrem Wohlbefinden. Ja es ginge ihr nicht so gut, aber es gehe schon. Und ihr Mann? Da flossen leise Tränen, sie hatte ihn erst kürzlich verloren. Ich hatte Schwierigkeiten mit der Situation, lenkte das Thema auf ihren Heimatort. Sie erzählt darüber, immer mit leichtem Wehklagen. Über den Krieg und die Russen sprach sie, was mich faszinierte und schockierte. Eine starke Frau im Körper eines gebrochenen Wesens. Immer müder wurde sie, redete gedämpft, ehe sie einschlief. Verwirrt erwachte sie am Ende, wurde von ihrem Sohn im Wartezimmer bereits erwartet.

Zwei Tage später, gleiche Zeit, gleicher Ort. „Ah, der junge Herr da, der ist aber neu bei ihnen Frau Doktor.“ „Aber nein, mit ihm haben sie sich das letzte Mal auch so gut unterhalten, sie wissen eh.“ „Ah… Ich weiß schon wieder, wer das ist.“ Der Bann war gebrochen, die Erinnerung wieder zurück. Sie wusste jedoch nicht mehr genau, worüber wir letztens sprachen. Ich versuchte das Gespräch weg von ihrem Mann zu lenken, aber auch heute kam sie wieder darauf. Bitterliche Tränen rollten über ihr faltiges, vom Leben gezeichnetes Gesicht. Sie kam wieder auf ihre Erinnerungen zurück, erklärte mir bis ins Detail, auf welchen Höfen sie sich damals versteckt hatten. Auch was sie zu essen bekamen, wusste sie genau. Ruhig schlief sie ein.

Das ging zwei Monate so, bis meine Zeit dort zum Jahreswechsel endete. Alle Gespräche verliefen gleich, immer neu kennenlernen, stets dasselbe Muster, einzig Nuancen in den Schilderungen änderten sich. Im Frühling las ich in den Todesanzeigen ihren Namen.

© Thomas Schützenhöfer 2020-03-27

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