Lebensmüde

Amy- Leanne

von Amy- Leanne

Story

„Ich bin müde.“ Sagtest du plötzlich in die Stille hinein. Ich zuckte mit den Schultern und deutete auf mein Bett. „Bevor wir gehen kannst du dich noch in mein Bett legen und schlafen.“ Kommentierte ich gleichgültig. Irgendwie blicktest du mich seltsam an. Dein Blick war so versunken, als würdest du nicht mich, sondern dich selber ansehen. Als würdest du dein Inneres betrachten, deine eigenen Gedanken lesen. Du schienst eine Weile nachzudenken. Schließlich schütteltest du den Kopf. „Nicht so müde.“ Erwidertest du. Etwas verwirrt sah ich dich an. „Anders müde?“ Fragte ich verwirrt. Du nicktest. „Okay.“ Lachte ich, doch du bliebst ernst. „Lebensmüde.“ Gabst du kalt zurück. Erschrocken starrte ich dich an. Ich wollte dich fragen, ob es dir gut geht, ob ich dir helfen kann, oder ob du professionelle Hilfe brauchst. Doch du warst schon im Begriff es mir zu erklären. „Guck nicht so“, begannst du, „Ich bin nur müde vom Leben, weißt du? Es ist verdammt anstrengend. Immer wieder verlierst du gute Freunde. Immer wieder musst du versuchen, die verlorenen Freunde mit neuen Kontakten zu ersetzen. Das klingt hart, aber es ist nichts anderes. Der Mensch ist ein Herdentier, ohne Kontakte sind wir am Ende und Menschen sind Egoisten. Einzelgänger die eine Herde brauchen, schräg, oder? Außerdem denkt man über so vieles nach und ist ständig irgendwelchen Entscheidungen ausgesetzt. Man macht sich über so vieles Gedanken, dass mein Hirn schon gar keinen Platz mehr haben müsste. Und dann noch diese verdammt schwierigen Gefühle. Mal fühlst du dich so glücklich und kannst nicht mehr aufhören zu lachen. Dann ist da ein Gefühl in deinem Bauch, bei dem es wahrscheinlich aussieht, als müsstest du brechen, wenn du versuchst das Grinsen zu unterdrücken. Plötzlich spürst du wieder diese Angst. Die Angst vor der Zukunft, vor der Zeit, die Angst vor allem. Und dann pulsiert die Sehnsucht in deinen Adern. Eine unsagbare Sehnsucht, die dich zu vernichten droht. Dieses ganze Hin und Her, diese verdammte Zerrissenheit macht mich fertig. Das alles ist so anstrengend. Aber das alles ist Leben, dem kann man nicht entkommen.“ Abwesend starrtest du vor dich hin. Ich sah, wie du deinen Gedanken nachhingst. Ich wusste, was du meintest, ich spürte es auch. Ich setzte mich auf mein Bett und klopfte mit der Hand neben mich. Du standest wortlos auf und nahmst ganz dicht neben mir Platz. „Deswegen bin ich so verdammt müde. Aber eben anders müde.“ Ergänztest du und ich lehnte meinen Kopf auf deine Schulter. Mit deinem Arm zogst du mich ein Stückchen weiter zu dir. Deine Hand blieb auf meiner Schulter liegen und wir starrten eine Weile gegen die graue Wand auf der anderen Zimmerseite. „Ich bin auch müde.“ Flüsterte ich in die Stille hinein und spürte, wie sich dein Kopf auf meinen legte. Zusammen fixierten wir die Wand noch eine Weile und saßen gemeinsam auf meinem Bett, beide Lebensmüde. Aber eben auf die etwas andere Art.

© Amy- Leanne 2024-01-01

Genres
Romane & Erzählungen