Marika, die genau wie Mathilda fest daran glaubte, dass es wirklich und ehrlich der Baum war, der zu den Leuten sprach, hatte mir, wie erwartet, nicht weitergeholfen.
Daher war meine nächste Adresse das Studentenwohnheim, in dem Leo-Rudolf Krause wohnte. Er empfing mich freundlich und bot mir Chips und Bier an, was ich gerne annahm. Leo-Rudolf strich verlegen seine widerspenstigen roten Locken aus dem Gesicht, als ich ihn um seine Geschichte bat.
Er holte tief Luft und erzählte …
Ich wusste von Anfang an, dass es falsch war. Ich weiß auch nicht, warum ich es tat. Es begann, nachdem ich mit meiner Freundin auf einer Party bei ihrer Schwester eingeladen worden war. Die Schwester war noch um einiges hübscher als meine Freundin, und moralisch kein besonders gutes Vorbild. Eine Woche nach der Party waren wir bereits miteinander im Bett, doch die Affäre entwickelte sich noch weiter.
Auf dem Heimweg von einem meiner heimlichen Stelldicheins ging ich durch den Park hinter der Universität, da ich plante, noch einen Sprachatlas von der Bibliothek mitzunehmen. Mein Blick fiel auf die alte Eiche, die still auf ihrem Platz stand. Mit einem Mal verspürte ich das Bedürfnis, jemandem meine Fehler mitzuteilen. Langsam ging ich auf den Baum zu und klopfte an seine Rinde. Ich wartete einen Moment; dann hörte ich sanftes “Ja?” “Ich muss es jemandem erzählen, sonst platze ich”, gestand ich, und dann sprudelten die Worte nur so aus mir heraus. Der Baum hörte zu und sagte zunächst einmal gar nichts. “Ich will sie nicht noch länger anlügen”, platzte es aus mir heraus, “aber ich fürchte mich vor den Konsequenzen.” “Wir alle machen Fehler”, sagte der Baum, “Fehler formen unsere Seele.” “Aber das, was ich getan habe, war nicht einfach nur ein Fehler”, widersprach ich. “Fehler, die andere betreffen, sind die Fehler, die am schwersten zu tragen sind”, antwortete die Eiche, “Und letztendlich ist alles, was wir tun können, dazuzustehen, dass wir sie begangen haben.” “Sie wird mich nicht mehr lieben”, sagte ich, und beim Gedanken daran kamen mir plötzlich Tränen. “Es gibt Fehler, die zu vergeben beinahe unmöglich ist”, sagte der Baum zärtlich, “Alles, was wir dagegen tun können, ist, daraus zu lernen und sie in Zukunft zu vermeiden.” Ich umarmte den Baum und ließ eine Weile meinen Tränen freien Lauf, bevor ich (ohne Sprachatlas) zu meiner Freundin zurückkehrte.
Ich tat, was mir mein schlechtes Gewissen in der Gestalt des Baumes geraten hatte, und gestand ihr die Wahrheit. Sie schien erleichtert, dass ich ihr mein Vergehen persönlich gebeichtet hatte, doch wie erwartet endete unsere Beziehung noch an diesem Tag. Natürlich bereue ich, sie auf so törichte Weise verloren zu haben, doch der Gedanke, dass ich stark genug war, um die Wahrheit zu akzeptieren, spendete mir Trost.
© Paula Würtenberger 2021-03-18