Eigentlich wollte ich das Publikum überraschen, doch dann überraschte es mich. “Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt”, heißt es.
Der Nibelungen-Kunst-Palast im Lautertal, in der meine Lesung stattfand, untermalt von groovigem Blues eines befreundeten Musikerpärchens, war komplett ausgebucht. Die Galeristin und wir strahlten um die Wette! So weit, so hoffnungsfroh!
Mick verbarg sich mit der Gitarre hinter den Kulissen, um nach der Lesung meiner Story.one-Stories: “Flamenco in Saintes-maries-de la mer” und “Volare in Rom” wie ein Kasper aus der Kiste zu hüpfen. Er sollte mich in fetziger Gipsy-Manier begleiten. Ich wollte den Reise-Stories aus “Glück und Ort sind eins” mit Gesang und Tanz möglichst plastisch Leben einhauchen. Nach dieser kleinen Showeinlage hatte ich vor, etwas aus “Der Peinlich-Run” vorzutragen.
Das mit dem “möglichst plastisch” gelang ausgezeichnet! Mick stand auf Startschuss parat, das Publikum klatschte und sang fröhlich mit uns mit. Es ist üblich, dass bei einem Liveact in einen weltbekannten Refrain miteingestimmt wird. Vor allem wenn die Sängerin wild gestikuliernd dazu auffordert. Allerdings gilt das unausgesprochene Gesetz, dies an der richtigen Stelle zu tun. Eine romantisch gekleidete, ältere Dame fühlte sich offensichtlich zu Höherem berufen. Die mediterrane Musik schien glückliche Erinnerungen in ihr zu wecken – jep, da wurd‘ die Omi wieder jung! Volare brachte sie völlig außer Rand und Band! Ihre vier Buchstaben schmiergelten fast das Furnier vom Stuhl, ihre Stimme erklomm ungeahnte Höhen. Sie schmetterte den Refrain nicht nur im Besagten, sondern in Dauerschleife. Ein “Not aus” war nicht in Sicht, ihr Begleiter suchte verzweifelt … Das übrige Publikum grinste von einem Ohr bis zum anderen, begleitet von fassungslosem Kopfschütteln. Mittlerweile kickste die Dame wie angestochen. Da sie direkt vor mir saß, bekam eine meiner Freundinnen Panik, ob ich bei dieser Nummer die Nerven behalte oder ein Lachflash mir die Beine wegreißt und ich am Ende noch ein Pfützchen mache. (Womit sich die Lesung aus “Der “Peinlich-Run” erübrigt hätte.) Doch dank langjähriger Gig-Erfahrung bewahrte ich Haltung.
Andere dagegen begannen haltlos zu kichern, einige Tapfere bissen sich feuerroten Kopfes auf die Fäuste. Am Nebentisch reckte jemand mein peinliches Büchlein in die Lüfte, ebenso den Daumen, und rief: ”Kauf ich!“ “Ich auch, ich auch!”, flog es mir gackernd um die Ohren. Ich hätte die entflammte Omi knutschen können. Ob ich sie als Werbechefin engagiere? Ich schenke ihr mein schönstes Lächeln, sie gab es mir tausendfach zurück und zischt zu ihrem Begleiter hinüber: “Siehste? Du immer mit deinem spießigen pssst, pssst, pssst! Die Künstlerin findet mich toll!”
Aber hallo! Jetzt war ich’s, die den Daumen hob und zwinkerte. Alle zwinkerten gutmütig zurück – außer die Eine. Die sang lieber und ihr Begleiter begann langsam aber sicher unter den Tisch zu rutschen …!
© Tanja Gitta Sattler 2021-09-12