von Martin R
Meine Oma ist 82 und für ihr Alter ist sie fitnesstechnisch im oberen Drittel. Ich liebe es bei ihr zu essen, sie macht die weltbesten Süßspeisen. Das sagen höchstwahrscheinlich viele von ihrer Großmutter. Ich habe mich oft gefragt, ob die so geboren werden oder ob man im Laufe der Zeit so wird. Muss man zuerst das Stadium der Mutter durchlaufen und dann die Fehler wiedergutmachen mit überhäufender Liebe? Oder ist es so mit der Erinnerung, in der man vieles verklärt und man denkt, man war immer schon so nett. Sind kleine Kinder so süß und dieses Bild hält sich, da man sie ja immer nur für ein paar Stunden hat und dann wieder abgeben kann? Ich bin zwar schon 26 aber bei meiner Oma, da bin ich immer noch 10. Dafür gibt es von mir auch keine Widerworte. Beim Essen kann sie nämlich schon lästig sein. Der Versuch dieses Haus ohne vollen Magen zu verlassen ist schon im Vorhinein zum Scheitern verurteilt. Heute helfe ich ihr beim Holz einräumen, damit sie im Winter nicht erfriert, wie sie zu sagen pflegt. Mein Großvater hilft auch mit, doch er ist für sein Alter fitnesstechnisch im unteren Drittel. Er muss nicht helfen und er kann auch nicht helfen, doch er sieht es als seine heilige Pflicht an es trotzdem zu tun. Er arbeitet und beschwert sich, nach fünf Minuten setzt er sich entnervt wieder hin, da sein geschundenes Kreuz ihn schmerzt. Meine Oma, sie arbeitet weiter und schweigt. Nach einer halben Stunde macht er wieder weiter und dasselbe Spiel wiederholt sich. Die Holzscheite sind nicht schön genug gestapelt. Dass dies seine Schuld ist, sieht er nicht. Ich mache still weiter, denn ich mische mich nicht ein. Nachdem wir fertig sind gibt es Essen, natürlich als Vorspeise Suppe, denn wer lange suppt, der lebt lange. Danach gibt es eine Hauptspeise und mindestens 2 Nachspeisen. Alles hat sie alleine gemacht. Ich schäme mich das erste Mal, ein wenig dafür. „Das nächste Mal können wir auch was bestellen oder ich helfe dir.“ „Aha, koche ich nicht mehr gut genug?“, kommt böse zurück. Die Majestätsbeleidigung erspare ich mir bei der nächsten Gelegenheit. Überhaupt hoffe ich nicht, dass Enkelkinder dafür da sind, die Spielverderber in solchen Angelegenheiten zu geben. Mein Großvater belastet es auch nicht sonderlich. Er ist nur für die Bereitstellung der Getränke zuständig. Die restliche Zeit sitzt er nur da und lässt sich das Essen servieren. Ich glaube nicht, dass es jemals anders war. Trotz des guten Service ist er nicht zufrieden, er ist alt und er merkt, er wird nicht mehr gebraucht in diesem Haus. Meine Oma lässt ihn das aber nicht spüren, dafür ist sie viel zu fürsorglich. Die Wochen und Monate vergehen und meinem Großvater geht es immer schlechter. An einem kalten Tag im Februar geht er für immer. Meine Oma ist traurig, aber sie schweigt. Als ich sie nach ein paar Monaten besuche, bietet sie mir wieder viel zu viel zu essen an. Sie beschwert sich über das Leben und das sie jetzt ohne Hilfe im Haushalt leben muss. Ich frage mich welche Hilfe das gewesen sein soll, aber ich merke, dass sie meinen Großvater vermisst. Ich vermisse ihn auch, doch keiner spricht in unserer Familie viel über Gefühle. Beide sitzen wir da und als meine Oma meine Traurigkeit bemerkt, holt sie noch einen Kuchen aus der Kammer und stellt ihn mir wortlos hin. Ich habe keinen Hunger mehr, aber ich esse ihn denn er tut uns beiden gut.
© Martin R 2023-08-31