“Auuuwehhhhhhh! Bitte aufhören. Es tut so weh. So weh!“
Die Rufe meiner Patientin Anna M gehen mir durch Mark und Bein. Kurz halte ich inne, beobachte sie, warte ab, bis der Schmerz langsam abklingt und sie sich wieder entspannt. Als sie bereit ist, nickt sie mir zu und ich fahre mit der Teilwaschung fort, so vorsichtig wie möglich.
Anna M ist 36 Jahre alt und hat einen fortgeschrittenen Tumor, der sich sternförmig in ihrem Gehirn ausbreitet. Inoperabel. Ihre Prognose? Sie wird sterben. Bald.
Ich habe die Aufgabe übernommen, Anna M als Hauskrankenschwester zu begleiten. Sie will zu Hause sterben, wenn irgendwie möglich. Schon seit einiger Zeit ist sie sehr schwach und deshalb bettlägerig. Vor einigen Wochen hat der Tumor das Schmerzzentrum im Gehirn befallen. Seitdem hat Anna M starke Schmerzen bei jeder Berührung der Haut, sei diese noch so zart oder vorsichtig. Wir haben deshalb die Körperpflege reduziert und verteilen eine Ganzwaschung über mehrere Tage. Trotzdem dauert jede Teilwaschung ewig. Immer wieder sind Pause notwendig, damit der Schmerz dazwischen etwas abklingen und Anna M kurz durchatmen kann.
Heute ist Dienstag, am Programm stehen Gesicht, Rücken und Gesäß. Vorsichtig drehe ich meine Patientin zur Seite. Da sehe ich sie. Spermaflecken! Zum bereits zweiten Mal in dieser Woche!
“Kann der seine Frau nicht einfach in Ruhe lassen?“ zische ich innerlich und Zorn steigt in mir hoch. Von Anfang an konnte ich diesen Mann nicht leiden. Typ Obermacho. Typ Frauenheld. Typ Egoist. “Sex mit einer Frau, der die kleinste Berührung wahnsinnig weh tut. Was ist das nur für ein Mensch!”
Ich versuche meinen Unmut unter Kontrolle zu halten. Vorsichtig und konzentriert wasche ich Anna M fertig, danach bette und lagere ich sie nach ihrem Wunsch. Als ich aus dem Badezimmer zurückkehre, in dem ich die Waschschüssel entleert und gereinigt habe, nimmt Anna M meinen Blick auf. Mit schwacher Stimme fragt sie: “Was ist los, Schwester Sonja?”
Kurz halte ich mich zurück, dann bricht es aus mir hervor: “Dass er immer noch Sex von Ihnen will! Das macht mich soooo wütend!” Meine Aufregung läuft bei Anna M aber ins Leere. Lange schaut sie mich an, ich sehe, sie zögert. Doch sagt sie: “Sie verstehen nicht. Es ist anders. Mein Mann begehrt mich noch, obwohl ich so ein Wrack bin. Das bedeutet mir sehr viel.”
Hitze flammt über meine Wangen. Was für eine Fehleinschätzung der Situation! Ich schäme mich.
Aber Anna M greift nach meiner Hand, schaut mich mit großen dunklen Augen an und fügt hinzu “Außerdem, wenn mein Mann mich liebt, habe ich seltsamerweise keine Schmerzen. Da bin ich nur glücklich.”
20 Jahre ist dieses Erlebnis mittlerweile her. Heute bin ich nicht mehr direkt in der Pflege tätig, sondern halte Seminare für Pflegepersonen, unter anderem zum Thema Sexualität und Pflege. Anna M ist bei diesen Seminaren immer in Gedanken dabei. Was sie mich gelehrt hat, trage ich mit Leidenschaft hinaus in die Welt.
Sonja S., Gesundheits- und Krankenpflegerin
© Proud-to-be-a-Nurse 2020-10-29