von HelgaP
Im Fernsehen sehe ich zufällig einen Bericht über die Sammelleidenschaft eines Arztes: die Objekte seiner Sammlung sind Lindekaffee-Plastikspielzeugfiguren. Schmunzelnd erzählt er über diese seine Leidenschaft und fasziniert folgen meine Blicke der Kamera über die unzähligen Figürchen in den Glasvitrinen. Für Lindekaffee Nichtkenner: es handelt sich um einen ursprünglich aus Nachkriegszeiten stammenden Kaffeeersatz aus Getreide, in dessen Packungen als Verkaufslockmittel immer eine Spielfigur aus Plastik zu finden ist oder war. In meiner Kindheit stellte das Öffnen der Lindekaffeepackung immer ein spannendes Highlight dar. Welcher Schatz würde sich diesmal wohl im schwarzen Kaffeepulver offenbaren?
Für mich verbindet sich mit diesen Plastikfiguren auch eine Erinnerung an Verbrechen, Schuld und Sühne. Im Alter von circa sechs sieben Jahren fuhr ich mit meiner Familie zu Besuch zu den Patenkindern meiner Mutter. Zusammengedrängelt saßen meine drei Schwestern und ich auf der Rückbank des weißen VW-Käfers. Bei den Verwandten angekommen spielten wir nach Kaffee und Kuchen mit den Kindern der Familie. Im Sandkasten entdeckte ich staunend eine wahre Offenbarung: hier gab es mindestens zehn Lindekaffee Plastikzwerge. Der eine mit einem Schäufelchen in der Hand, der andere stehend mit Schubkarren, Zwerge in verschiedenen Posen und mit allerlei Ausrüstungen. Mein Entzücken war grenzenlos. Wir spielten und spielten. Dann rief die Tante zur Jause. Alle gingen ins Haus, ich war noch alleine im Sandkasten. Und nun geschah es. Ich konnte der bösen inneren Stimme nicht widerstehen, schnappte mir sechs von den Zwergen und versteckte meine Diebesbeute listig unterm Fahrersitz unseres VWs. Während der Jause kreisten meine Gedanken nur um mein dunkles Geheimnis das da draußen im Auto lag. Nach verzehrter Mahlzeit war unser Besuch zu Ende und wir fuhren nach Hause.
Wie ich es schaffte meine erbeuteten Zwerge von meiner Mutter unbemerkt ins Haus zu tragen weiss ich nicht mehr. Doch nun hatte sich die innere Stimme in eine mahnende verwandelt: “ Was hast du getan? Du hast gestohlen!” Ich fühlte mich so schuldig. Noch nie in meinem Leben hatte ich diebischen Anwandlungen nachgegeben, doch die Faszination der Lindezwerge waren mein Fall geworden.
Ich sah mir die Zwerge immer wieder heimlich an, doch keine Freude kam mehr auf. Am nächsten Tag begrub ich die sechs Zwerge mit unendlicher Trauer zwischen den hohen raschelnden Stängeln im Maisacker. Dort ruhen sie heute noch.
Dieser Diebstahl hat mich lebenslang verfolgt. Zwar war die emotionale Belastung je nach Lebenslage mehr oder weniger hoch, doch vergessen habe ich es nie.
Bei der 80-er Feier meiner Mutter vor einigen Jahren waren auch deren Patenkinder eingeladen. Nach dem Essen erhob ich mich und bekannte vor den damals Betroffenen meine Untat und entschuldigte mich. Ich erhielt lachende Vergebung. Seither ist mir leichter.
© HelgaP 2021-10-16