von Elina Waschk
1. Ertragen
Marnie watete barfüßig durch einen Bach, geflutet mit schwarzem Wasser und den Lichtern eines Sternenzeltes darüber. Kalt und beständig strömte es gegen ihre fahlen, zitternden Knöchel und Marnie wunderte sich, warum sie keine Fische sehen konnte. In den tropfnassen Kinderhänden hielt sie den raschelnden Saum ihres weißen Rüschenkleides. Mama hatte es für sie gemacht und würde wohl in Ohnmacht fallen, verunstaltete sie es mit demselben Dreckwasser, in dem sich auch die Straßenjungen wuschen. Marnie durfte nicht hier sein, aber die marmornen Zargen, die sie gefangen hielten, rammten sich mit solch einer Inbrunst in den ausgelegten Boden ihres unschuldigen Kinderzimmers, dass sie bei deren Gegenwart um ihr junges Leben fürchtete. Sie konnte es nicht mehr ertragen. Immer öfter schweiften ihre Gedanken an einen anderen Ort, jenen Ort, den Mama ihr verboten hatte aufzusuchen.
Ein Schrein im Wald, so klein und heilig, dass er nur von Feen und längst vergessenen Waldgeistern hätte erbaut werden können. Denn jedes Mannes Hände und dessen Vaters Hände wären doch zu grob und schwielig gewesen, um solch eine zierliche Stätte mit Bedacht und Gewissenhaftigkeit zu errichten. Marnie lagen die Wünsche, die sie dort auszusprechen gedachte, auf der tauben Zunge, während sie immerfort durch den beinah zugewucherten Bach stolperte. Sie dachte daran, was die Geister ihr wohl antworten würden und was sie tun sollte, lehnten sie ihre Bitte ab. Ein Nein könnte ich nicht ertragen, sagte sie sich.
Die Luft duftete nach frischem Rauch, wie jede Nacht. Doch heute fühlte es sich für Marnie noch reinigender an. Sie plusterte die magere Brust auf und atmete tief ein, als wäre das ihr erster richtiger Atemzug seit Jahren. Die Flügel ihrer Lunge flatterten freudig im Takt ihrer Schritte.
Jetzt war alles wieder rein. Keine Spuren mehr von Mamas Worten oder Papas Händen, die überall waren, nur nicht dort, wo sie hingehörten.
Marnies Augen strahlten wie Smaragde, aber viel heller und sanfter, weil sie all das endlich für einen Moment vergessen konnte.
Das klirrende Wasser unter ihr erwärmte sich, denn nicht weit entfernt sah sie eine Lichtung und der Schein des abnehmenden Halbmondes strich zärtlich über einen winzig kleinen, weißen Altar. Er strahlte freundliche Wärme aus, die sich von Marnies Zehenspitzen bis in ihre kurzen goldenen Locken ausbreitete.
Sie konnte dieses Gefühl kaum ertragen.
© Elina Waschk 2021-04-10