Von Marokko nach Sizilien

Hannes Stuber

von Hannes Stuber

Story

Günter verbrachte einige Tage in Marrakesch, schlief jedoch außerhalb der Stadt, und zwar in einer Olivenplantage. Er wartete immer etwa zwei Stunden in der Dunkelheit, ehe er sicher sein konnte, dass ihn niemand beim Betreten des Hains sah. Eines Morgens fand er in etwa zwanzig Meter Entfernung von seinem Schlafplatz eine aus Karton und Stoffresten gebaute Behausung vor. Ein alter dünner Araber hockte da. Günter wusste nicht, wer mehr erschrak, er oder der Alte. Sie starrten sich einige Sekunden schweigend in die Augen. Das Gesicht des Marokkaners war zerfurcht vom Wüstenwind und der Winterkälte. Günter machte sich vom Acker.

Er nahm den Zug nach Fes. Nach einigen Irrgängen und Pfefferminztees fand er den Souk, den alten Markt, der durch riesige Torbögen zu betreten war. Das Geschehen im Souk war überwältigend. Die Kunsthandwerker verzierten Metallvasen mit Silberdrähten, stanzten Messingteller mit der Hand, sie fertigten Halsketten, Ohrringe, Armbänder und anderen Schmuck mit einer unglaublichen Geschicklichkeit.

In Kasar-es-Souk traf er Carlo, einen Deutschen. In einem Olivengarten, in dem sie kampierten, packte Carlo seine Trompete aus und spielte. Daraufhin begann ein Esel in einem Stall jenseits des Flusses zu schreien. Das hörte sich verblüffend ähnlich an, wie Günter amüsiert feststellte.

Die hohen und oben zugemauerten Gassen der Altstadt von Meknes hinterließen einen unheimlichen Eindruck. Nur ungefähr alle vierzig Meter gab es oben eine Öffnung, durch die etwas Sonnenlicht hereinfiel. Günter war froh, als er diesem Gassenlabyrinth entfleuchte.

Er nahm den Zug nach Madrid und von dort nach Rom. Altes Gemäuer, Tore des Triumphs, Colosseum, Forum Romanum, Engelsburg, Petersdom, Eissalon. Unzählige Statuen, zu Pferde, ohne Pferd, mit Gott, ohne Gott, mit Armen, ohne Arme, mit Kopf, ohne Kopf, im Kampf oder kampflos. Pflasterstraßen, auf denen sich die Legionäre Fernsenprellungen, Spreitzfüsse und Kniescheibenschäden geholt hatten.

In Napoli herrschte Schlechtwetter, der Vesuv versank im Nebel. Das menschliche Gewimmel in den nächtlichen Straßen war beeindruckend. Tagsüber mussten sich die Neapolitaner von den nächtlichen Aktivitäten erholen, zum Arbeiten kamen sie dadurch leider nicht mehr.

In Sizilien wanderte er durch das Innere und schlief eisern im Freien, obwohl Dezember war. Die Madarinenplantagen waren mit Stacheldrahtzäunen umgeben, durch die er sich kämpfte. An seinem Wanderstock befestigte er einige bunte wohlriechende Blumen und marschierte fröhlich dahin, wie ein Gaukler vor sich her pfeifend. In Siracusa, der auf hohen Felsen erbauten Stadt, verbrachte er viel Zeit im Gewirr der Gassen. Bei Palazzolo erlebte er den Sturm seines Lebens, der ihn samt Rucksack von der Straße wehte. Auch ein zweites Mal fegte es ihn auf das Feld. Er blieb eine Weile am Boden hocken, um sich zu bedauern. Gesicht und Hände waren aufgeschürft, die Haut im Gesicht brannte wie Feuer.

© Hannes Stuber 2022-09-08