von Johanna Koers
Vermisst (2)
„Hast du deinen Dornröschenschlaf beendet?“ Jedes Wort aus seinem Mund erinnerte sie unweigerlich an irgendwelche gruseligen Aufziehpuppen aus einem Antiquitätenladen. Er sprach in einem seltsamen Hoch und Tief der Tonlage – verzogen, gedehnt. Seinen Kopf auf die rechte Schulter geneigt sahen seine Augen sie durchdringend an und ließen ihr keinen Raum für Zweifel: Ihr Trennungswille – ihre Absicht ihn zu verlassen – hatte etwas in ihm geweckt, das noch viel gefährlicher war als die Gewalt, die er schon vorher gegen sie ausgeübt hatte. Sein Blick war ferner und doch eindringlicher als je zuvor und das ekelhafte Grinsen auf seinen Lippen weckte den sofortigen Instinkt schreiend davonzulaufen – ein Impuls, dem sie nicht folgen konnte. „Du weißt, dass ich das tun musste,“ er nickte, um seine Worte zu unterstreichen. `Wartete er tatsächlich auf eine Antwort? Wollte er ihr Okay dafür, dass er sie niedergeschlagen und in seinen Kofferraum gesperrt hatte?´ „Du wolltest mich verlassen. Das kann ich nicht zulassen, Mea.“ Sascha lächelte: ein Lächeln, das ihr ein eiskaltes Schaudern über den Rücken laufen ließ.
„Aber ich habe uns an einen sicheren Ort gebracht.“ Er hielt ihr die Hand entgegen und wirkte dabei tatsächlich aufgeregt wie ein kleines Kind, das seinen Eltern begeistert ein selbstgemaltes Bild unter die Nase hielt und auf ihre Reaktion wartete. Allein der Gedanke, ihn zu berühren, ihm die Hand zu reichen, ließ sie übel werden. Sie war ihm schutzlos ausgeliefert. Die Hand, die er ihr anbot, war das Paradebeispiel für die Macht, die er über sie besaß. Nikki drehte sich auf die Seite, umfasste den Rahmen des Kofferraumes, missachtete seine Hand und stieg ohne Hilfe aus ihrem Gefängnis der letzten Stunden. Die frische Luft war wie eine Wohltat für ihre nach Sauerstoff lechzende Lunge. Sascha nahm ihre Ablehnung kommentarlos hin. Gerade fühlte sie ein Hauch von Genugtuung, als ihr beim Aufrechtstehen schwindelig wurde, sie ihre Hand automatisch an ihren Kopf legte und das Gleichgewicht zu verlieren drohte.
„Na na na“, seine Stimme klang rügend, als sie den Arm, den er stützend um ihre Hüfte gelegt hatte, wegstieß. „Ich will dir nur helfen, Mea.“ Nikki schwieg. Es gab so vieles, das sie dem Mann an den Kopf werden wollte, den sie bis vor ein paar Tagen noch so auf so bizarre und krankhafte Weise liebte, dass sie sich immer wieder beschützend vor ihn geworfen hatte.
Als der Schwindel nachließ und sie sich ihren Füßen auf dem Grund einigermaßen sicher war, öffnete sie die Augen: getrocknetes Blut. Instinktiv führte sie die dunkelrote Hand zurück an ihr Haar, das trocken und fest an ihrer Kopfhaut klebte.
Sie konnte die offene Wunde spüren, auch wenn das Blut längst getrocknet war: So stark hatte er sie noch nie geschlagen. „Du hast mich sehr wütend gemacht, Mea. Ich hatte keine Wahl.“ Sie schluckte schwer, schaute sich um: Bäume, Sträucher, Blätter, Äste, eine lange Einfahrt, die allerdings kaum noch als eine solche zu erkennen war. Ein Teich… eine Holzhütte! DIE Holzhütte.
„Erinnerst du dich an das letzte Mal, als wir hier waren? Hier sind wir sicher. Nur wir beide.“ Wie ein heftiger Schlag in die Magengrube wurde ihr im Bruchteil einer Sekunde speiübel, war ihr das Atmen unmöglich geworden, verlor sie den Grund unter ihren Füßen und fiel haltlos zu Boden.
© Johanna Koers 2023-07-30