Mein früheres Ich: Ein Sonntag im Wirtshaus

Gestresst das passende Outfit aussuchen. Wo sind die Kinder? Huch, schon viel zu spät! Warum sind wir immer so unpünktlich? Das Geschenk für Tante Lotte nicht vergessen! Und die Mehlspeise. Schnell alles ins Auto räumen. Fünf Minuten vor Zwölf. Peinlich immer die Letzten sein zu müssen. Und der Parkplatz vom Wirtshaus ist auch schon wieder so überfüllt!

Ein gewöhnlicher Sonntag. Einer, wie jeder andere auch. Es ist halb Elf, ausgeschlafen ziehe ich meine bequemste Sonntagshose und die passenden Serviceschuhe an. Mir ist bewusst, dass ich heute wieder einige Kilometer gehen werde, denn ich bin nicht die, die bei Tante Lotte eingeladen ist. Ich bin die, die sie und noch viele andere am heutigen Tag bedienen wird.

Die, doch etwas längere, Autofahrt nutze ich als Vorbereitung: Ist alles korrekt aufgedeckt? Kenne ich die Speisekarte gut genug? Was waren noch schnell die neuen Weine? Aja, und im Saal fehlen noch die frischen Blumen! Im Wirtshaus angekommen ist der erste Weg zum Reservierungsbuch. Seit Freitag sind noch fünf neue Tische dazugekommen. „Na super“, denke ich mir, im Wissen, dass ich es eh nicht ändern kann. “Erst ab 14 Uhr”, ist unter einer dicken, fetten roten Linie zu lesen, damit alle wissen, keine neuen Gäste, die vergessen haben zu reservieren, aufzunehmen. Alle Tische sind ausgebucht, nicht einmal einen freien Sessel gibt es noch.

Die Kirchenglocke läutet halb Zwölf. Der wöchentliche Sonntags-Stammtisch flüchtet vor dem kommenden Ansturm.

Jetzt wird es stressig. Besteck polieren, Servietten falten, Tische aufdecken, nebenbei die ersten Gäste bedienen.

Mit einem dumpfen, viel zu lauten, Buzzer-artigen Geräusch übertönt die Küchenglocke die schrillen Töne des Geburtstagsliedes für Frau Lotte, welches aus einem der Nebenräume hallt.

Essen servieren, Sekt einschenken, Platz zuweisen – „Fräulein“ hier,- „Fräulein“ da, ich kann mich nun mal nicht zerteilen! Ich packe mein freundlichstes “Ich bin sofort bei Ihnen”, aus und entscheide mich für diese Reihenfolge.

Stress – das war mein Arbeitsalltag in vier Jahren Gastronomie. Und trotzdem bin ich jeden Tag aufs Neue motiviert in die Arbeit gekommen, um unzähligen Gästen, die man teilweise schon beim Namen gekannt hat, und denen man ohne zu fragen immer dasselbe Getränk, mit dem Satz “Heute wieder Menü 1 mit Nudelsuppe, so wie wie immer?”, serviert hat, ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

Und mit genau diesem Lächeln bin ich Abends nach mindestens acht Stunden harter Arbeit nach Hause gegangen, um mich am nächsten Tag wieder derselben Herausforderung zu stellen.