Ich lernte ihn kennen, als ich 11 Jahre alt war. Plötzlich war er da in unserem Haus. Vorher hatte ich nichts von seiner Existenz gewusst. Er wurde mir als mein Halbbruder Kurt vorgestellt. 20 Jahre älter als ich. Ein attraktiver Mann. Lehrer so wie mein/sein Vater. Er hatte eine Stelle als Hauptschullehrer im benachbarten Frauenkirchen angenommen und war ab diesem Zeitpunkt des Öfteren Gast in unserem Haus. Er besuchte seinen Vater. Ich freute mich unglaublich über diesen überraschenden Familienzuwachs und war sehr stolz darauf, einen großen Bruder zu haben, wenn auch nur einen halben. Als einsames, über behütetes Einzelkind hatte ich große Sehnsucht nach Geschwistern. Mein Herz hüpfte jedes Mal vor Freude, wenn ich seinen roten VW-Käfer vor unserem Haus stehen sah. Auch meine Mutter, zu der er Tante sagte, war sehr erfreut über seine Anwesenheit. In unserer einfachen, aber gemütlichen Wohnküche bewirtete sie ihn mit kulinarischen Köstlichkeiten und einem guten Glas Wein, bezogen von ihrem Onkel, der Weinbauer in Weiden am See war. Obwohl ich kaum mit ihm redete – ich war viel zu schüchtern- und auch er hatte offensichtlich Schwierigkeiten, mit mir in einen fließenden Dialog einzusteigen, genoss ich seine Gegenwart sehr und war traurig, wenn er uns wieder verließ.
So gingen die Jahre dahin. Er bekam eine neue Stelle. Winden. Auch nicht weit weg von uns. Kurt besuchte uns mit einer Regelmäßigkeit und erwies sich als verlässlicher Chauffeur, wenn meine Mutter nach Weiden fahren wollte, um landwirtschaftliche Produkte ihrer Tante nach Podersdorf zu transportieren. Es war für mich immer eine willkommene Abwechslung.
Die Jahre gingen dahin. Ich kam immer seltener nach Hause. Ich wollte der ländlichen Enge des Dorflebens entfliehen und suchte mein Glück in der Anonymität der Großstadt.
Sein /Mein Vater hatte 1973 einen Schlaganfall. Er wurde zum Pflegefall. Meine Mutter hat ihn gepflegt. Im April 1976 erreichte mich die Nachricht, dass mein Vater im Sterben liege. Diese Nachricht erhielt auch mein Halbbruder Kurt. Ich fuhr sofort nach Hause. Mit dem Autobus von Wien nach Podersdorf am See. Als ich daheim eintraf, saß mein Halbbruder schon in der Küche. Oder auch nicht. Kann sein, dass er später eingetroffen ist. So genau weiß ich das nicht mehr. In Erinnerung ist mir jedoch, dass wir an diesem 7. April 1976 unser erstes und letztes Gespräch hatten. Ehrlich, intensiv, authentisch. Im Angesicht des Sterbeprozesses seines/meines Vaters. Ab und zu verließ er das Zimmer, um nach seinem sterbenden Vater zu sehen. Er war nicht mehr bei Bewusstsein. Irgendwann verließ Kurt unser Haus. Ich bekam einen Migräneanfall, so schlimm wie noch nie. Der Arzt musste kommen. Am 8. April um ein Uhr machte unser Vater seinen letzten Atemzug.
Trotz meiner Migräneattacke ging ich in das Sterbezimmer. Ich sah meinen Vater friedlich, wie schlafend liegen.
Drei Tage später war das Begräbnis. Mein Bruder war nicht gekommen. Ich sah ihn nie wieder.
© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2022-11-11