Mein Leben als Baum

Irene Vasicek

von Irene Vasicek

Story

„Warum schreibst du nicht etwas?“ Diese Frage hat mir meine Freundin und Ex-Kollegin gestellt, nachdem ich mich beklagt hatte, dass mir etwas fehlt in meinem Leben. Die vorzeitige Pensionierung und der Umzug aufs Land haben ja doch auch Nachteile. Ich vermisse den Kontakt zu gleichgesinnten Menschen, das Zuhören, die GesprĂ€che ĂŒber all die kleinen und grossen Dinge des Lebens, die guten RatschlĂ€ge, die ich mir gerne geholt, aber noch lieber gegeben habe. Dass Menschen bei mir Rat suchen, fehlt mir mehr, als ich je gedacht hĂ€tte.

Dabei hat ihr erster Vorschlag – VortrĂ€ge zu halten ĂŒber all das, was ich weitergeben kann und möchte – bei mir spontan Ablehnung und Abwehr ausgelöst. Blitzschnell waren unzĂ€hlige Argumente da, warum das nicht geht, warum ich das nicht kann und was daran nicht gut wĂ€re. Aber sie lĂ€sst nicht locker, vielleicht könnte ich es ja aufschreiben? In mir ist etwas wachsam, aber neugierig. Schreiben? Ja, das liegt mir mehr. Schreiben wollte ich ja immer wieder mal. Sie empfiehlt mir eine Webseite, bei der man Kurzgeschichten veröffentlichen kann und dann widmen wir uns anderen GesprĂ€chsthemen.

Aber die Saat, die sie gesĂ€t hat, ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Ich recherchiere im Internet, besuche auch die empfohlene Seite und merke, dass mich das Thema nicht mehr loslĂ€sst. In der Schule war ich gut in Deutsch und das Aufsatzschreiben war kein Problem fĂŒr mich. Eine seltsame Euphorie ergreift mich, wĂ€hrend ich die RatschlĂ€ge und die Hilfe lese.

Und dann erinnere ich mich an einen Aufsatz, den ich in der Schule geschrieben habe. Das Thema war so etwas wie „Der Baum im Lauf der Jahreszeiten“ und wir sollten ihn in der Ich-Form, also aus unserer Perspektive schreiben. Ein paar Tage spĂ€ter bekamen wir den Aufsatz korrigiert zurĂŒck und die Lehrerin bat mich, meinen der ganzen Klasse vorzulesen.

Meine Aufregung war groß und meine Stimme zittrig, aber die NervositĂ€t legte sich, je lĂ€nger ich las. Und wĂ€hrend ich Satz fĂŒr Satz tiefer in die Welt des Baumes eintauchte, konnte ich spĂŒren, wie auch die Klasse immer mehr in den Bann der Geschichte gezogen wurde. Gemeinsam erlebten wir das Austreiben der BlĂŒten und BlĂ€tter im FrĂŒhling, den ĂŒppigen Sommer mit seinem Überfluss an Sonne, WĂ€rme und Feuchtigkeit, den Beginn des Herbstes und das Feuerwerk der Farben, das die verwelkenden BlĂ€tter zeigten. Und schließlich den unaufhaltsamen Winter, der mit KĂ€lte, Eis und Schnee alles erstarren ließ – es war, als wĂ€ren wir alle gemeinsam fĂŒr kurze Zeit dieser Baum gewesen.

Das ist jetzt mehr als fĂŒnfzig Jahre her, aber immer noch kann ich die Energie und die Kraft spĂŒren, die damals das ganze Klassenzimmer erfĂŒllten. Diesen Moment werde ich nie vergessen.

© Irene Vasicek 2019-12-12