Mein Nachbar Roland Weißhuhn

Christine Sollerer-Schnaiter

von Christine Sollerer-Schnaiter

Story

Seine Aufzeichnungen über die Kriegsgefangenschaft sind ein Schatz, den er mir eines Tages über den Gartenzaun gereicht hat, falls ich sie irgendwie einmal verwenden kann. Er hätte sich gewünscht, sie zu veröffentlichen oder in einer Lesung kund zu tun. Es kam nicht mehr dazu. Er starb bald darauf. Lieber Roland, meine Erinnerung an dich ist unvergesslich und wertvoll und ich werde deine Geschichte weitererzählen.

Er war Sudetendeutscher und hat in Tirol Arbeit und eine neue Heimat gefunden. In seinem kleinen Haus am Waldrand war über manche Zeiten eine vornehme Frau zu Gast. Wenn sie eingehängt den steilen Weg an unserem Haus vorbei heruntergingen – sie, eine leuchtend rote Baskenmütze auf ihrem weißen Haar – strahlten sie etwas Märchenhaftes und Geheimnisvolles aus. Die Geschichte dieser zwei vom Schicksal gebeutelten Menschen ist so unglaublich wie schön. Sie stammten aus demselben Dorf im ehemaligen Sudetenland und waren bereits als Jugendliche verliebt.

Der Krieg und die lange Kriegsgefangenschaft trennte sie. Irmgard hatte inzwischen geheiratet, fünf Kinder bekommen und die Flucht nach Westdeutschland unter schwierigsten Bedingungen überstanden. In Hamburg baute sich die Familie ein neues Leben auf. Nach dem Tod ihres Mannes haben die alten Liebenden wieder zueinander gefunden. Irmgard wechselte zwischen ihren Kindern und Enkelkindern in Hamburg und Tirol hin und her. Beide waren bereits über 80 Jahre und erlebten eine der glücklichsten Zeiten ihres Lebens. Als Irmgard in einem Pflegeheim in Hamburg starb, war Roland wieder allein. Es war Tradition geworden, dass er am Heiligen Abend vormittags auf Besuch kam. Als Mutter mit drei Kindern war es nicht immer die günstigste Zeit für mich, aber eine wertvolle Stunde. Wir tranken Tee, redeten über Kunst und die Welt, dann spielte er für mich auf dem Klavier und wir tauschten kleine Geschenke aus. Ich lernte viel über Bilder und Musik und erhielt Bildbände, Scherenschnitte und ein Buch über Mozart: ‘Ihr Edler von Sauschwanz’, das ich sehr in Ehren halte. Viel Verbundenheit machte sich breit.

So viel müsste ich noch von ihm erzählen, aber ich will zumindest eine Passage aus seinem Text wiedergeben, um mein Wort zu halten: “Aus dieser Zeit sind mir nur einige Details in Erinnerung geblieben: wie am Körper war man auch im Kopf schwach geworden. Unsere Esslöffel-Ration dauerte Wochen, dann bekamen wir erstmals Brot: ein kleines Weißbrot für 50 Mann. Das Teilen ohne Messer war ein Problem. Eines Tages fanden wir einen großen Nagel. Der Feix aus Gablonz hatte die geniale Idee, daraus ein Messer zu machen. Mithilfe einer Eisenunterlage und eines Steines klopften wir wohl eine Woche lang, abwechselnd mit unseren schwachen Kräften, doch dann hatten wir ein ganz brauchbares Messer, mit dem Tausende Portionen geschnitten wurden. Dieses Messer habe ich noch heute als Kultur-Kuriosum in meinem Besitz.” –

Und ich, dieses Skriptum – seine Zeit wird kommen.


© Christine Sollerer-Schnaiter 2021-12-07