von P-Hildegardsen
Das können gute sein. Dann ist sie klar im Kopf, erzählt, erledigt ihre Sachen, ist energiegeladen. Wirklich schön, das mitansehen zu dürfen bei einer fast 92-jährigen. Dann wieder steht sie in der Küche, blickt ratlos umher und hat keine Ahnung, wo der Lichtschalter ist. Immer öfter gibt sie auf Fragen keine Antwort, sondern erzählt eine Geschichte, die nicht mal andeutungsweise zum Thema paßt.
Und dann sind die Momente, die ich am meisten fürchte, die mir Angst machen und mich verletzen. Sie vergißt zunehmend einiges, das man heute, gestern oder vor paar Tagen besprochen hat. Allerdings weiß sie sehr wohl alles mögliche noch aus ihrer Kindheit, vom Krieg und ähnliches. Und ich bin nicht gut darin, einfach alles zu übergehen, nicht darüber nachzudenken. Ich rutsche immer wieder schnell in die Fassungslosigkeit. “Mama, das haben wir doch gestern noch ganz genau besprochen!”
Und Mama wird böse. Beschuldigt mich, sie für blöd zu verkaufen und sie wäre ganz sicher nicht dement. Ich wüßte wohl einfach nimmer, mit wem ich gesprochen hätte. Mit ihr ganz sicher nicht. Im übrigen habe sie es satt, nur eine Figur in meinen Geschichten zu sein. Ich würde gar nicht im Jetzt leben. Ich wäre ein bösartiges Kind und nur dann glücklich, wenn ich andere Menschen (besonders eben sie, die Mama) verletzen könnte. In diesem Ton geht es dahin. Und das in dem Moment, wo wir eine angenehme, lustige Stimmung miteinander hatten. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen mich die Anwürfe. Keine Chance, ein Schutzschild hochzuziehen. Wumm, wumm, wumm – die Treffer landen in mir und ich schaffe es kaum, das von der Krankenhaus-Psychologin angeratene Verständnis rauszuholen.
Zwischen dem Entsetztsein, daß das hier meine Mutter ist und dem Bild, als ich sie sah, wie böse sie mit einer Hilfswerk-Pflegerin umgegangen ist. Hin zu den Tagen, wo meine Mutter duldsam alles mögliche ertrug. Meine Verzweiflung, nicht die Art Pflegerin zu sein, die ein alter Mensch wie Mama braucht. Dem Verständnis für sie, daß sie jetzt in ihrem hohen Alter keinen fremden Menschen mehr um sich haben möchte. Meine Trauer, daß ich kein eigenes Leben habe oder mir zumindest jedes bißchen Unternehmungsgeist etwas mühsam erkämpfen muß. Ein fakirischer Seiltanz mit löchrigem Netz.
Heuer sind es 20 Jahre, daß mein Vater starb. Und ich die Verantwortung für Mama übernommen habe. Früher hat alles mein Vater geregelt und organisiert. Nach seinem Tod wurde das von mir erwartet und ich habe mich noch nie vor einer Verantwortung gedrückt. Knapp 10 Jahre sind es, daß ich die intensive Betreuung von Mama übernommen habe. Nach ihrem Sturz, den falschen Medikamenten und dem Herzinfarkt.
Wenn’s mir zuviel ist, frage ich, warum nicht mein Bruder (mit Familie) mal die Betreuung von Mama übernehmen kann. Mutter: “Das wäre doch eine Zumutung.” Das geht gar nicht!“
Dann bin ich immer traurig, mutlos und klein.
© P-Hildegardsen 2021-07-22