Meine Schwester Lotte Ingrisch

rebella-maria-biebel

von rebella-maria-biebel

Story

Es war 1996, Gottfried von Einem war noch am Leben, und ich hatte vorm Schlafen in einem Buch von Lotte Ingrisch gelesen. Dann kam dieser starke Traum: Ich wohnte in einem alten Haus. Gegenüber stand ein genau gleiches Haus in diesem schönbrunnerschlossgelb, darin wohnte meine Schwester. Der Weg dazwischen war so schmal, dass wir einander Post von Fenster zu Fenster reichen konnten. Wir fanden das sehr lustig, ich wachte kichernd auf, und da erkannte ich auch, wer meine Traumschwester war. Eindeutig Lotte Ingrisch. Und weil der Traum so realistisch war, wollte ich ihn mit meiner Traumschwester teilen. Ich schrieb an ihren Verlag und bat um Weiterleitung. Es dauerte gar nicht lang, da kam eine nette Grusskarte mit einem einzigen Satz: “Wie schön, ich hab mir schon immer eine Schwester gewünscht, jetzt hab ich eine!” Und ihre Telefonnummer.

Bald danach besuchte ich Lotte in ihrer Wohnung in Wien. Adresse: Hofburg. Klingt schon edel, ist aber eine ziemlich normale Altbauwohnung. Allerdings bin ich mir zeitweise doch wie in einem Film vorgekommen. In Lotte Ingrischs KĂĽche zu sitzen und mit ihr Kaffeetrinken, – mit Blick auf den Heldenplatz. Ich kann mich nicht mehr erinnern, worĂĽber wir geredet haben. Sicher auch ĂĽber Gottfried. Denn da war seine Totenmaske in einer grossen Plastiktasche, die musste sie irgendwohin bringen, ob ich sie begleiten wollte? Also spazierten wir dann plaudernd ĂĽber den Kohlmarkt und Graben, samt Gottfried von Einems Totenmaske. Es war ganz selbstverständich, so wie ich natĂĽrlich ihre Traumschwester war. FĂĽr Lotte gibt es ja kaum Abgrenzungen zwischen verschiedenen Bewusstseinsebenen. Jedenfalls war mein Wienbesuch bei ihr eine herzwarme Begegnung und fĂĽr mich auch ziemlich aufregend.

Einige Monate später lud sie mich in ihr Haus im Waldviertel ein. Wie in ihren Büchern regierten auch dort ihre sechs Katzen. Lotte suchte sie alle zusammen, es war Futterzeit. Und wieder spazierten wir mitsammen, diesmal nicht in der Wiener City, sondern durch Gärten und über Wiesen auf der Suche nach sechs Katzen. Lotte wusste natürlich ihre Lieblingsplätzchen, und wenn dann wieder eine angerannt kam mit aufgestelltem Schwänzchen, dann strahlte sie voller Freude und trug sie zum Futterplatz.

Und dann haben wir uns, – aus welchen GrĂĽnden auch immer -, fĂĽr Jahrzehnte aus den Augen verloren. Gestern hatte ich so eine nostalgische Anwandlung und schickte einen Brief in die Hofburg, ob sich Lotte noch an mich erinnerte? Heute, grad vorhin, kam ein Anruf, und mit ihrer Stimme kam auch die Erinnerung an ihr liebes Lachen:

“Oh du liebe Traumschwester, ich hab mich so über deinen Brief gefreut…!”

Es war ein liebes Gespräch mit einer warmherzigen neunzigjährigen ungewöhnlichen Frau. Was hab ich mich gefreut! Und nun hab ich wieder eine Einladung in die Hofburg. Ist das nicht entzückend, wenn sich eine neunzigjährige und eine vierundsiebzigjährige Schwester nach Jahrzehnten wiederfinden???

© rebella-maria-biebel 2021-03-23

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