Midnattssol – Unter der Mitternachtssonne

Klaus P. Achleitner

von Klaus P. Achleitner

Story

Aus dem Geografieunterricht war mir die Mitternachtssonne natürlich bekannt. Warum es sie gibt und wo. Nördlich des Polarkreises auf der nördlichen Hemisphäre (analog natürlich auch auf der Südhälfte der Erdkugel) geht die Sonne in den Tagen um den 23. Juni herum nicht mehr unter. Und je weiter nordwärts, desto länger bleibt unser Zentralgestirn über dem Horizont. Am Nordkap sieht man die Sonne zwischen Mitte Mai und Ende Juli andauernd – außer es herrscht so starker Nebel, dass man das Nordkap-Denkmal nicht sieht, selbst wenn man direkt davor steht. Soweit die Theorie.

In der Praxis sitze ich in der Panorama-Lounge der KONG HARALD, einem der älteren von etwa einem Dutzend Fährschiffen der norwegischen Hurtigruten-Flotte und harre der Dinge, die da kommen. Das Schiff hat vor einigen Stunden die Hafenstadt Tromsö, die Metropole des Nordens, verlassen und stampft entlang der Fjordküste nordwärts. Der Polarkreis liegt längst hinter uns. Es ist bereits nach 23.30 Uhr nachts, die Sonne steht tief. Die verglaste Panorama-Lounge liegt auf dem höchsten Deck vorne, genau über der Brücke. Rundum stehen bequeme Stühle und kleine Tischchen, in der Mitte des Raumes thront die Bar. Die Lounge ist trotz des aufregenden Moments nur spärlich besetzt. Vielleicht kennen die anderen Reisenden dieses Erlebnis schon oder sie sind zu müde. Vielleicht finde auch nur ich Alpenländler es aufregend, wenn es in der Nacht einfach nicht finster werden will. Wie auch immer, ich freu mich drauf und bestelle noch ein Glas Weisswein.

Die Aussichten sind grandios. Im Osten zieht sich eine endlose Kette von weissen Gipfeln und vergletscherten Hochplateaus dahin, von der tiefstehenden Sonne in malerisches rötliches Licht getaucht. Im Westen treffen sich Himmel und Meer am Horizont. Und dort spielt sich das Spektakel ab. Die Sonne sinkt immer tiefer und tiefer, bis sie schließlich den Horizont küsst. Zu Hause würde sie jetzt hinter dem Horizont verschwinden und die Nacht einläuten. Nicht so hier im Lande der Wikinger. Wie ein flacher Kieselstein, der von der Wasseroberfläche abprallt, beginnt die Sonnenscheibe wieder zu steigen. Ich schaue auf die Uhr. Es ist „midnattssol“, wie die Norweger sagen und die Sonne schenkt uns ihr prachtvolles Licht auch weiterhin. Ich nippe an meinem Weinglas und stoße auf unser Zentralgestirn an. Möge sie uns noch lange leuchten!

Ich lasse die Stimmung noch bis nach 1 Uhr morgens auf mich wirken, ehe ich mich in den Bauch des Dampfers zurückziehe. Dort, tief unten, schläft meine ermüdete Freundin seit Stunden den Schlaf des Gerechten. Ich versuche, in der engen Kabine möglichst geräuschlos meine Koje zu entern. Künstliches Licht brauche ich dafür nicht, midnattssol sorgt für ausreichend Helligkeit. Allen Befürchtungen zum trotz versetzt mich das leise Vibrieren und Schaukeln des Schiffes sofort in den Schlaf. Es wird eine Woche vergehen, ehe wir die Dunkelheit wiedersehen.

© Klaus P. Achleitner 2019-11-26

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