Mitten im Satz

Michelle Theymann

von Michelle Theymann

Story

Manchmal fahre ich blind Fahrrad. Nachts, wenn kaum jemand unterwegs ist und jeder Motor auf hunderte Meter Entfernung zu hören ist, fahre ich in der Mitte der Straße, breite die Arme aus und schließe meine Augen. Mein Rekord liegt bei 65 Sekunden, aber bei dem Mal habe ich auch den Asphalt geküsst. Der Tod passiert anderen. Aber im Grunde glaubt doch niemand, dass er selbst sterben wird. Das zeigt sich deutlich darin, wie wir unser Leben gestalten, uns über Banalitäten den Kopf zerbrechen und vor vermeintlichen Risiken zurückschrecken. Wenn der Tod anklopft und sich ungeduldig ans Handgelenk tippt, will daran niemand glauben.

Reue ist ein gerissener Dieb. Er reißt Löcher in Taschen, von denen wir nicht ahnen, wie viel Wert wir darin herumtragen. Es ist nur kleines Wort mit vier Buchstaben, aber dennoch nimmt es in unser aller Leben so viel Raum ein, dass manche von uns kaum mehr atmen können. Reue geißelt uns, zwingt uns zum Niederknien. Die Trauer beginnt nicht erst mit dem Tod, sondern in dem Moment, in dem wir wissen, dass jemand zum Sterben verdammt ist, noch während diese Person mitten unter uns weilt. Sie beginnt im Krankenhausflur, mit einem unterdrückten Husten oder dem lästigen Klingelton eines Smartphones. Nicht nur der Verlust an sich ist schmerzhaft, sondern auch der Weg dorthin. Tag für Tag ein wenig mehr loslassen, noch ein bisschen mehr leiden.

24 Stunden dauert es, bis die Erde sich einmal um ihre eigene Achse dreht. Währenddessen schnippt sie Hunderttausende Menschenleben über ihren Rand, zurück in das Universum, aus dem sie gekommen sind, in unerreichbar weite Ferne. Das Leben passt in keinen Bilderrahmen. Sicherheit ist eine Illusion, von der wir uns zu gerne ruhigstellen lassen, unser Leben auf später zu schieben. Wenn wir nur noch dieses eine letzte Mal rauchen, wenn wir endlich diese eine Person finden, wenn wir zehn Kilo abnehmen, dann … 

Wohin wir auch gehen, die Welt besteht fort. Selbst, wenn wir von heute auf morgen verschwinden, sind die Auswirkungen im Ganzen unsichtbar. An welchem Ort ich bin, was ich esse, wen ich liebe, was ich trage – all das ist der Welt herzlich egal. Wenn mein Licht erlischt, erhellen Abermillionen andere Feuer die Nacht. Auch der Weg ins Jenseits ist ein sonniger Waldweg und während ich ihn in atemberaubendem Tempo heruntersause, spüre ich die Wärme in meinem Gesicht. Ich lasse den Lenker los und lehne mich in den Wind, breite die Arme aus und schließe die Augen. Die Vögel zwitschern ihre vertraute Melodie.

Verlier‘ nicht dein Gesicht, wenn der Konjunktiv mit wehenden Flaggen Einzug hält und dich verführen will, dein Leben auf später zu verschieben. Ein später, das niemand garantieren kann. Suche nach dem Glück, vielleicht sucht es dich auch. Wir haben nur dieses eine Leben, es gibt keine Generalprobe. Alles kann schiefgehen – oder alles richtig: Leuchtende Träume können sich erfüllen – oder klirrend zu Scherben zerfallen. Welchen Weg wir gehen, wohin wir abbiegen, wer uns begleitet, ist uns in Teilen vorherbestimmt, und gleichzeitig jeden Tag unsere eigene Entscheidung im Jetzt, im Heute. Sie nicht zu nutzen wäre töricht, denn manchmal endet das Leben mitten

© Michelle Theymann 2024-09-04

Genres
Lebenshilfe
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Emotional, Inspirierend, Reflektierend