Monolog des Riesenrads

Jürgen Heimlich

von Jürgen Heimlich

Story

Ihr kennt mich alle. Nicht, dass ich damit angeben will. Es ist einfach so. Ob ihr in Transsylvanien oder in Buxtehude lebt. Und erst recht, wenn ihr geborene Wiener seid.

Ich bin eine 403,05 Tonnen schwere Eisenkonstruktion. Ein technisch perfektes Wunderwerk.

Geplant hat mich ein englischer Ingenieur. Ein gewißer Walter Basset. Für meine Errichtung zuständig war der Chefkonstrukteur Hubert Cecil Booth. Ich wurde wahnsinnig schnell in gerade mal acht Monaten gebaut. Mitbekommen habe ich das nicht. Erst als ich am 3. Juli 1897 so richtig in Bewegung gesetzt worden bin und mich die Menschen anlässlich meiner feierlichen Eröffnung bewunderten, erwachte ich zum Leben. Seitdem ist viel passiert.

Ich war von Anfang an 64,75 Meter hoch. 30 Waggons haben mich geschmückt. Die Menschen lieben es bis heute, in einem der Waggons miteinander zu turteln, das Panorama von Wien zu genießen und Feierlichkeiten zu begehen. Ach ja, ich bin ein Wahrzeichen von Wien. Das hätte ich fast zu erwähnen vergessen. Nur der Vollständigkeit halber soll es gesagt sein. Der Prater wäre ohne mich nicht denkbar. Ich lehne mich für diese Aussage nicht zu weit aus dem Fenster. Wer mit mir fährt, sollte sich auch nicht aus dem Fenster lehnen. 1919 hat mich der jüdische Geschäftsmann Eduard Steiner gekauft. Billig war ich sicher nicht. Er hat mich bald weiter verpachtet. Es bestand keine Verwandtschaft mit Gabor Steiner. Zu meinen Füßen ließ Gabor, der Theaterdirektor war, „Venedig in Wien“ entstehen. Zu dieser Idee war er 1894 in London inspiriert worden. Ich war nur in den Gedanken von Walter da, als die Theater- und Vergnügungsstadt am 18. Mai 1895 seine Pforten öffnete. Venedig in Wien war so etwas wie ein Vergnügungspark im Vergnügungspark und also eine Konkurrenz zum Wurschtelprater. Verrückt, nicht wahr?

Venedig in Wien hatte ein Ablaufdatum. Mitten in Wien ein Stück von Venedig zu erleben hat die Menschen in Scharen angelockt. 1945 ist dann das ganze Areal abgebrannt. Auch mich hat es schwer erwischt. Ich wurde aber wieder aufgebaut und erstrahle heute in vollem Glanz. Ich verfüge jetzt nur noch über 15 Waggons. Seinerzeit habe ich das als Erleichterung gesehen. Und mir geht es ungebrochen gut, danke der Nachfrage. Mir ging es furchtbar, als mich die Nazis 1938 arisierten. Ich glaubte schon, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Eduard Steiner wurde am 17. August 1942 nach Theresienstadt deportiert. Später kam er ins KZ Auschwitz und ins Vernichtungslager Birkenau. Er und seine Frau wurden am 18. Juni 1944 ermordet. 1953 erfolgte meine Restitution an seine drei Töchter.

Ich habe gute und schlechte Zeiten erlebt. Doch ich lebe in der Gegenwart und sehe optimistisch in die Zukunft. Ich liebe euch Menschen! Wenn ihr in eine meiner Gondeln einsteigt, erfülle ich euch 15 Minuten Abenteuer, das ihr nie vergessen werdet. Vielleicht seid ihr so begeistert, dass ihr dieses Erlebnis wiederholen wollt. Das würde mich sehr freuen. Bleibt mir bitte treu!

© Jürgen Heimlich 2021-02-04

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