Mutter, komm Heim

Mutter…
Sieh, was du aus mir gemacht hast. Wie lange soll die Suche nach dir noch andauern? Normalerweise sind es die Eltern, die nach ihren verlorenen Kindern suchen, doch anscheinend hat sich das Blatt gewendet.

Ich weiß, du wirst diesen Brief erst lesen, wenn du nach Hause zurückkehrst oder wenn du erfahren hast, dass ich tot bin. Ein Teil von mir wünscht sich insgeheim, tot zu sein, denn dann wäre deine Rückkehr vielleicht garantiert.

Doch tief in mir flüstert ein schwacher Funke Hoffnung, dass wir uns eines Tages gesund und glücklich in die Arme schließen können. Dann wäre ein Brief nicht mehr nötig, denn ich könnte dir alles direkt ins Gesicht sagen.

Mutter… du ahnst nicht, wie wahnsinnig es mich macht, zu wissen, dass du vielleicht neben mir stehst, ohne es zu bemerken.

Es ist eine Schande, dass ich dein Gesicht nicht kenne. Wie könnte ich auch, wenn ich mich selbst nicht einmal erkenne? Ich habe mehrere Spiegel zu Hause, doch keiner kann mir sagen, wer ich bin oder was ich wirklich bin.

Oh Mutter, du hast uns mit einem Fluch belegt, aber ich weiß, dass du keine Wahl hattest.

Warum bist du trotzdem gegangen?

Warum hast du meine Identität, und damit auch deine eigene, so radikal verändert?

Es ist schon schlimm genug, dass ich mein wahres Gesicht nie sehen kann, aber das Gesicht meiner Mutter niemals zu sehen… Moment, ich korrigiere: niemals zu sehen, ist viel schlimmer als der Tod.

Oh Mutter… wo sind die Augen und das strahlende Lächeln, die mich bei meiner Geburt willkommen geheißen haben?

Ich kann die Tränen nicht zurückhalten… Sie jagen mich. Sie wollen das, was du mir vor 14 Jahren vermacht hast. Aber das wusstest du schon, als du mich verlassen hast.

Oh Mutter… ich vermisse dich und dafür verurteile ich mich selbst. Wie konntest du mich in dieser Hölle zurücklassen?

Was, wenn unsere Feinde mich finden? Was, wenn sie es schaffen? Ist es dann vorbei? Haben wir alles verloren? Ich weiß nicht, wie ich mit dieser Gabe umgehen soll. Ich habe Angst, sie zu nutzen, aber sie reagiert ständig, ohne dass ich es kontrollieren kann. Die Unsterblichkeit…

Du hast sie mir gegeben. Nach all den Jahren, die du gelebt hast, hast du anscheinend genug davon. Aber wie soll ich damit zurechtkommen?

Führt sie zu echtem Glück oder zerstört sie nur mein Leben?

Oh Mutter, komm endlich Heim. Lass mich dich sehen… bevor es zu spät ist.