von Anita Gürth
Im Rahmen meines Ausbildungslehrganges zu Biografiearbeit haben wir gemeinsam über einen Zeitraum von etwa vier Monaten deine „Wurzelgeschichten“ aufgestöbert. Es war für mich sehr spannend und hat mir großes Vergnügen bereitet, dir zuzuhören, deine Worte zu Papier zu bringen. Das Ergebnis vieler Gespräche war ein Lebensbuch, das ich dir schlussendlich überreichen konnte – „Deine Wurzelgeschichten“.
Die letzte Doppelseite war reserviert für eine ganz besondere Übung, die mich heute noch sehr bewegt. Ich habe die Umrisse deiner beiden Hände aufgezeichnet, und wir haben darüber gesprochen, was diese Hände schon alles im Leben getan haben. 83 Jahre zählten sie damals, und sie waren gezeichnet von schmerzhafter Arthritis. Nein, ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals rot lackierte Fingernägel hattest.
Es waren Hände, die schwere Arbeit geleistet hatten. Schon im Kindesalter halfen sie beim Stall ausmisten und Schweine schlachten. Es war selbstverständlich für sie, dass sie Hühner und Kühe gefüttert haben. Nicht anlässlich eines Urlaubs am Bauernhof, sondern tagtäglich, noch bevor die Sonne aufgegangen war, und du zur Schule gingst. Anstatt zu spielen, haben deine Hände deine kleinen Geschwister umsorgt, sie gefüttert und getröstet. Es gab noch keine Waschmaschine, daher hast du die Wäsche mühsam mit den Händen gewaschen.
Du hast auf dem Feld gearbeitet, die Gurkenernte der Bauern übernommen, in der Zuckerfabrik im Schichtbetrieb Würfelzucker verpackt. Später hast du tatkräftig beim Hausbau mitgeholfen und bist an der Mischmaschine gestanden. Deine Hände haben nicht nur Kinder, Enkel und Urenkel gefüttert, gewickelt und gestreichelt, sie haben ganz selbstverständlich auch Menschen getröstet, gepflegt und andere Hände geduldig und einfühlsam gehalten. Für deine beiden Töchter haben sie Kleider genäht, Pullis gehäkelt oder gestrickt. Sie haben ihre ersten Wohnungen ausgemalt oder tapeziert. Wenn du verzagt warst, dann hast du sie demütig gefaltet und gebetet. Und sie haben nicht nur die Tränen von anderen getrocknet, sondern oft auch deine eigenen, wenn du traurig oder verzweifelt warst.
Deinen Töchtern und Enkelkindern haben deine Hände vorgezeigt, wie Gemüse gesät und geerntet wird. Die Blumenpracht in deinem Garten ist ihnen zu verdanken. Das Einkochen von Marmelade und Obstsäften ging dir ebenso leicht von der Hand wie dein Rehbraten mit Grießkrapferln oder die legendären Bananenschnitten.
Deine Hände haben mich wohl behütet und vorbildlich das Leben gelehrt. Sie haben mir die richtige Richtung gezeigt, mich getragen, gehalten, aufgefangen, rechtzeitig losgelassen.
Sie mussten mich manchmal ermahnen, aber du hast sie niemals gegen mich erhoben.
© Anita Gürth 2020-09-05