Neue Freunde und alte Bekannte

Christina Fröhlink

von Christina Fröhlink

Story

Seit einer Stunde sitze ich bereits vor meiner Bücherwand und kann mich nicht entscheiden. Vielleicht besitze ich zu viele Bücher. Kann man zu viele Bücher besitzen? Quantität macht die Entscheidung in jedem Fall schwerer, wenn man sich für neuen Lesestoff entscheiden muss. Es sind tatsächlich viele Bücher, die ich noch nicht gelesen habe. Ich gehöre zu den Jägern und Sammlern – ich liebe es, nach Büchern zu stöbern und kaufe gerne, was mir gefällt. Nur ein neues Buch, sobald ich mein aktuelles Buch ausgelesen habe, wäre sinnvoll. Stattdessen wächst mein „Ungelesen“-Stapel. Wonach ist mir gerade? Welches Genre spricht mich in diesem Augenblick an? Ich blicke auf die Buchrücken, deren Farben vor meinen Augen zu einem bunten Regenbogen verschwimmen. All diese Bücher habe ich gekauft, weil die Klappenbeschreibungen interessant und spannend klangen. Da ich sie jedoch nur eins nach dem anderen lesen kann, hat sich im Laufe der Zeit einiges an Lesestoff angesammelt.

Ich nehme einen vielversprechenden Fantasy-Titel in die Hand und lese mir den Klappentext erneut durch. Dann schlage ich das Buch auf und lese das Ende. Meine Mutter sagt immer: „Wenn mir das Ende nicht gefällt, warum sollte ich dann das ganze Buch lesen?“ Vielleicht hilft mir diese Methode, das passende Buch zu finden. Das Ende ist offen, stelle ich fest. Da muss es doch einen zweiten Teil geben? Schnell suche ich mit meinem Handy nach dem Titel und stelle fest, dass es sich um den Auftakt zu einer Buchreihe handelt. Das würde bedeuten, dass ich mir nach Ende der Lektüre direkt den zweiten Band kaufen müsste, um zu wissen, wie es weitergeht. Meinem Ziel, den „Ungelesen“-Stapel zu dezimieren, wird mich das nicht wirklich weiterbringen. Also lege ich das Buch wieder zurück und greife nach dem nächsten. Hier ist das Ende von der Art „Ich wache auf und alles war nur Einbildung“. Nein danke. Auch dieses Buch wandert wieder zurück ins Regal. Ich beschließe, es bei nächster Gelegenheit jemandem zu schenken, der diese Art von Geschichte zu schätzen weiß. Dazu gehöre ich leider nicht. Wenn ich mich von einer Geschichte mitreißen lasse, um dann am Ende festzustellen, dass sich die Hauptfigur die ganze Zeit über im Traum oder Koma befand und nichts von der Erzählung real war, ist das für mich jedes Mal eine herbe Enttäuschung. Auch wenn das Buch selbst mir gut gefallen hat, bleibt aufgrund des Endes immer ein schaler Nachgeschmack.

Auch die nächsten Bücher finden ihren Weg zurück auf den Stapel. Das eine ist mir gerade zu blutig, das andere hat zuviel Herzschmerz. Wieder das nächste ist mir gerade zu sachlich … So geht es weiter, bis ich feststelle, dass die Sonne bereits fast untergegangen ist, ich im Halbdunkeln sitze und vor lauter Suchen und Überlegen den halben Tag vergeudet habe. Warum ist das heute so schwierig?

Genervt räume ich den kompletten „Ungelesen“-Stapel wieder zurück. Dann gehe ich ins Nachbarzimmer zu der Vitrine mit meinen Lieblingsbüchern. Ich suche mir den ersten Harry Potter-Band heraus, schnappe mir ein Lesezeichen und beginne zu lesen.

Wenn ich mich nicht entscheiden kann, sind im Zweifelsfall doch meist die guten alten Bekannten unter meinen Büchern die beste Wahl.

© Christina Fröhlink 2025-01-20

Genres
Anthologien
Stimmung
Inspirierend, Reflektierend