von Lorenz Graf
Spontan hatten wir uns entschlossen zum Nordkap zu fahren. Das war zu Beginn unserer Wohnmobilreise nach Norwegen nicht eingeplant und wir hatten es bisher auch nicht vorgehabt. Aber nun wollten wir zum Nordkap.
Wir planten noch im Kirkeporten- Camping, dem nördlichsten Campingplatz Europas, einen Tag Pause einzulegen. Vorher mussten wir aber noch die Strecke von Russels bis Honningsvag bewältigen. Dazu gehörte auch die Durchfahrt durch den Nordkap-Tunnel.
Die Gegend ist gebirgig, rau, kalt und karg. Nach einigen kürzeren Tunnels standen wir vor dem Portal des drittgrößten Unterwassertunnels Europas. Er ist 6,8 km lang und führt über 200 Meter tief unter dem Meer durch. Die Maut sollte entsprechend unserer Reiseinformation 100.- Euro betragen. Doch freudig überrascht lasen wir auf einer Tafel vor dem Tunnel, dass die Baukosten abbezahlt sind und daher die Benutzung ab sofort kostenlos ist. Das wäre doch was für die Asfinag, oder?
Unter dem Meer durchfahren? Ein mulmiges Gefühl beschlich uns. Nachdem wir aber auf die Insel Mageroya wollen, da auf ihr das Nordkap liegt, bleibt uns nichts anderes übrig, als durch den Tunnel unter dem Meer hindurchzufahren.
Wir waren kaum in den Berg eingefahren, machte sich Erleichterung breit. Es ist doch gar nicht schlimm, sagten wir uns. Doch dann war sie da, die Angst. Das Wohnmobil verlor plötzlich stark an Geschwindigkeit, obwohl ich das Gaspedal durchdrückte. Eine Panne im Tunnel! Das wäre das schlimmste Horrorszenario, denn es fuhren nur ganz selten Autos und es gab keine Pannenhilfe weit und breit, dafür über uns Milliarden Tonnen Meerwasser. Ein sehr beklemmendes Gefühl. Ich schaltete vom vierten in den dritten Gang herunter, dann auf den zweiten.
“Bleiben wir jetzt stecken?” rief meine Frau angsterfüllt.
Ich drückte den ersten Gang hinein und siehe da, das Auto hatte wieder Kraft und nahmen wieder Fahrt auf. Der Motor heulte laut, doch wir kamen gut voran. Endlich Licht am Ende des Tunnels. Wir sind draußen, unser Wohnmobil bewegte sich wieder ganz normal. Glück gehabt!
Später traf ich andere Camper und da bekam ich die Erklärung für den Geschwindigkeitsverlust im Tunnel. Von der 200 Meter tiefsten Stelle geht es steil bergauf, daher muss man ganz herunterschalten. Das Problem ist, dass unser Auge die Steigung im Tunnel nicht erkennt. Es fehlen die vergleichenden Anhaltspunkte. Also nur eine optische Täuschung, beziehungsweise eine optische Nichtwahrnehmung, dass man den steilen Anstieg nicht sieht.
Wir waren erleichtert.
Nicht ganz, denn der Groll, den meine liebe Gattin gegen mich hegte, war noch nicht verraucht. Ich hatte nämlich im Tunnel, als wir fürchteten eine Panne zu haben, gemeint: “Wenn jetzt durch die Tunneldecke das Meer durchbricht und die Wassermassen herunterstürzen, werden wir schneller hinausgespült, als wir je fahren könnten.” Offenbar hat ihr das nicht gefallen.
Doch bevor der Abend kam, waren wir versöhnt.
2015
© Lorenz Graf 2021-02-08