von Carolin Mund
Eigentlich gibt es dich nicht. Du bist eine fiktive Person und doch bist du mir so nah, denn du bist gerade immer in meinen Gedanken. Ich lese über dein Leben, kenne deine Gefühle und weiß, was du durchmachst. Wir führen stumme Zwiegespräche und ich brenne förmlich darauf, alles über dich zu erfahren. Jeden Morgen will ich wissen, wie es dir geht, was als nächstes passiert und jeden Abend treffen wir uns wieder auf dem Sofa oder in meinem Bett. Bevor ich einschlafe, folge ich dir noch in deine Welt. Leide oder lache mit dir. Versuche dich zu verstehen, was auch meistens der Fall ist. Selten bin ich anderer Meinung. Du wächst mir mit jeder Seite, mit jeder Zeile mehr ans Herz. Wenn es die Zeit zulässt, dann treffe ich dich auch mal zwischendurch in der Bahn oder in der Mittagspause. Der Abschied fällt dann immer so schwer, eigentlich würde ich gerne stundenlang so sitzen bleiben und mich unsichtbar mit dir unterhalten, nur in Gedanken. Ganz eintauchen in diese Parallelwelt, in der du lebst.
Manche hören Geschichten lieber. Lauschen einer Stimme, die dein Leben erzählt. Aber ich bevorzuge den stummen Dialog mit dir. Ich bin dir so näher, ich will niemanden zwischen uns. Ich alleine bestimme, wie du aussiehst, wie du vielleicht klingst. Und doch weiß ich, dass es von dir zig verschiedene Versionen gibt, denn jeder der dich kennt, hat eine andere Version von dir erschaffen. Das, was ich zwischen den Zeilen über dich lesen kann und die Beschreibung, die ich von dir habe, reichen mir, dass ein Bild vor meinen Augen entsteht. Ich kenne dich eigentlich nicht wirklich und werde dich auch nie im echten Leben treffen und doch erkenne ich dich jedes Mal sofort wieder. Ich weiß, was du gerne isst, was dir Angst macht, wie du dich bewegst, wie du dich kleidest, wie dein Haus aussieht und warum du eigentlich entstanden bist. Sehr oft denken und fühlen wir sogar das Gleiche. Du bist mittlerweile wie ein guter Freund, den man immer wieder trifft. Ja ich gebe zu, ich fiebere unseren Treffen regelrecht entgegen und wenn es meistens ein Jahr lang dauert, bis ich dich wieder zu mir nach Hause holen kann, dann ist es eigentlich immer zu lang. Das Warten auf dich und auf die schönen Stunden mit dir.
Wieder ein Stück mit dir deiner Wege gehen. Mich für ein paar Stunden aus meinem Leben auszuklinken und in deines einzutauchen. Wenn wir beide da so sitzen im Café, dann sieht uns keiner an, dass wir beide eigentlich gerade ganz woanders sind. In einer anderen Zeit, in einem anderen Land oder nicht von dieser Welt. Du bist mein Ticket für eine besondere Reise. Für Gedanken-Urlaub, der guttut. Manchmal geht es nur um dein Leben, um deine Geschichte. Manchmal wird es aber auch extrem gefährlich und schockierend und ich hoffe jedes Mal, dass am Ende alles gut wird und du die Welt wieder ein Stückchen besser machst. Egal was es auch ist, du berührst mich. Jedes einzelne Wort berührt mich. Und wenn ich die letzten Seiten umschlage, dann weiß ich, dass du mich jetzt wieder verlassen wirst. Spätestens wenn ich dich in mein Regal stelle, überkommt mich ein Hauch von Traurigkeit, weil es wieder so schön war mit dir. Du wirst mir fehlen. Ich warte auf dich.
Du wurdest erschaffen, bist die Idee von jemand anderen und doch gehst du mir nicht mehr aus meinem Kopf …
© Carolin Mund 2024-02-23