Offener Brief an den Tod

Wortlos stehe ich daneben, Dich, das Wortlose nicht fassen könnend.

Wir sind uns schon oft begegnet. Meistens auf verschiedenen Seiten: ich im Kampf für das Leben und Du wartend, wissend, dass Du irgendwann gewinnen wirst, denn meine Siege sind auf Zeit.

Obwohl alles perfekt läuft, stirbt jemand. Dann wieder geht einiges schief und jemand überlebt trotzdem. Einige können ein „normales“ Leben führen, andere sind zum Siechtum verurteilt. Dein Humor ist makaber.

Manchmal bist Du ein Schatten in einem Gesicht von Schwerkranken, eine Ahnung. Die Leute wissen nicht, dass Du mich anblickst, aber ich erkenne Dich.

Ist es eine Gabe oder ein Fluch? Das Wissen, dass Du kommen wirst. Dass ich mich verabschieden muss von jemandem. Oder Menschen darauf vorbereite, dass sie sich verabschieden sollen.

Dann wieder kommst Du unvermittelt, plötzlich. Reißt eine Leere auf.

Man kann nicht alle retten und in seltenen Fällen sehne ich Dich herbei, damit das Leid ein Ende nimmt. Denn nicht immer kann die Medizin helfen, den Schmerz stillen oder die allzu schweren Wunden heilen.

Ich habe Dich gefühlt, Deine Nähe gespürt. Du hast mich verändert, aber am Leben gelassen. Vielleicht habe ich auch noch eine Aufgabe zu erfüllen. Oder es war Zufall?

Reisende kann man nicht aufhalten. Wenn Menschen Dich suchen, werden Sie Dich finden und uns mit der Frage nach dem „Warum?“ zurücklassen, auf die es oft keine Antwort gibt.

Für mich bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung. Sie halten mich aufrecht, auch wenn mich Schmerz und Trauer manchmal niederwerfen.

Du wirst mich noch oft wütend erleben, auch meine Angst spüren und meine Gebete hören, die Dich bannen sollen. Ich werde Worte des Trostes suchen, versuchen, Dich, das Wortlose in Worte zu fassen.

Damit das Leben weiter gehen kann.

Wir sind noch nicht fertig miteinander.

Ich werde da sein, für alle, die überleben.

…Gedanken einer Notärztin, nicht nur in Zeiten von Corona, wo durch Isolation Menschen verzweifeln.