Viele meinen, der Winter sei eine Leidenszeit. Heizungen würden gegen klamme Dunkelheit anwummern. Auf dünnem Eis schlage man sich zum Frühling durch.
Aber das stimmt nicht. Für uns Kinder gab es im Winter einen goldenen Lichtbogen. Er brachte Herzenswärme; unser Lachen ließ die Wände erblühen.
In den 60ern glich das Gesicht meines Vaters einem Holzschnitt. Die Prägespuren saßen tief. Sirenen gellten in seinen Ohren, Angstaugen spähten immer noch nach Feinden. Als Feldarzt war er mit wenigen Fäden ausgekommen. Zurück in der Heimat hatten Lebensmittelmarken Enthaltsamkeit in ihn eingebrannt. Sie bildete Echos, warf Schatten in unsere Kinderwelt.
Zuckerl? Unnötig und ungesund!
Teure Geschenke? Reine Verschwendung!
„Ja, Papa“, sagten wir. „Ach Papa!“, klagten wir schweigend.
Aber zum Glück gab es Oma und Opa, herzensgut und schenkwillig. Und es gab Tanten. „Kinder brauchen Süßes und Geschenke!“, war ihr Credo. Wir waren total ihrer Meinung.
Im November begannen Ootata den Lichtbogen aufzubauen. Zuerst kam das Adventspaket: Fett wie eine gemästete Sau, mit Packpapier fest umschnürt.
Wir stürzten uns auf den Brocken, zerrten an den Schnüren, stolperten über Papierberge. Mit Messerhoheit zerschnitt unsere Mutter das Klebeband und das Vorweihnachtsparadies klappte auf: Kokosbusserl und Vanillekipferl riefen nach uns; Spekulatius spielten Schiff und Windmühle; Lebkuchendreifaltigkeit schuf eine zuckersüße Qual der Wahl.
Wir bekamen Probiererle; ertranken im Zimt- und Kardamomduft. Schmatzend zermahlten wir die Kekse, pulten letzte Schokoreste aus den Zahnlücken. Die Heizung gluckste fröhlich; die süßen Schätze strahlten uns an.
Zwei Wochen später glitten geheimnisvolle Pakete vom goldenen Lichtbogen hinab. Kinderhände ertasteten sie, Vermutungen glitten an den Umrissen entlang. War da drinnen Holz oder Metall? Ein Schlitten vielleicht. Oder ein Bob?
An Heiligabend schmetterte Bach „Taa-ta. Tatata“ aus Brandenburg herüber. „Bin ich voll!“, duftete uns die Pute aus der Röhre entgegen. Aber zunächst ging es ans Auspacken. Ein Lenkschlitten glänzte unterm Weihnachtsbaum. Aus Chemiebaukästen purzelten Röhrchen und Kolben heraus. Und ein Riesenklumpen entpuppte sich als umgarnter Teddy; Schoko-Schmatzer zierten bald seine Backe.
Jahr für Jahr wärmte uns der Lichtbogen. Jahr für Jahr sah unser Vater, wie wir mitten im Winter aufblühten. Bei meiner vierzehnten Weihnacht hat er mich dann überrascht. Statt der üblichen Kleinigkeit hatte er drei Präsente für mich.
Drei? Von dir, Papa? Echt jetzt?
Ich fisselte nervös an den Verpackungen herum. Dann fallen mir meine Wunschgeschenke entgegen: Mungo Jerrys Summertime. Alice Coopers billionenschweres Baby. Und John Lennons Imagine. Ich leg sie auf. Mein Vater grinst ein Wiedergutmachungslächeln.
„Imagine all the people, living life in peace”, singt John. Ich summe mit, ein tiefer Bass stimmt ein, die Kerzen flackern im Takt.
© Paul Wolterstorff 2021-12-09