von Annemarie Hülber
‚Für Benny‘ Benny atmete tief durch, bevor er das Kuvert vorsichtig öffnete. Für Benjamin von seinem Opa Burkhard. Zelltal, 31. Dezember 2023.
Mein lieber Benny! Du hast meinen Brief gefunden. Das kann nur bedeuten, dass ihr nun am Fuchsbichlerhof wohnt. Das habe ich mir sehr gewünscht. Ich habe Benedikt immer wieder bestärkt, sich in Zelltal mit einer eigenen Physiopraxis niederzulassen. Das Haus ist perfekt dafür. In Wien haben sich deine Eltern nie richtig heimisch gefühlt, aber dort gibt es bessere Arbeitsmöglichkeiten. Auch Berni wird es in Zelltal gefallen. Wahrscheinlich tobt sie den ganzen Tag am Pferdehof herum – habe ich recht?
Und du, Benny? Um dich mache ich mir ein wenig Sorgen. Für dich ist die Übersiedlung nach Zelltal sicher nicht leicht. Du lässt deine Freunde und deinen Fußballverein in Wien zurück. Das tut mir so leid, denn das wird dir sicher alles sehr fehlen. Für dich ist Zelltal mit Abschied und einem ungewissen Neubeginn verbunden. Kannst du dich noch an das Gedicht erinnern, das ich dir vorgelesen habe? ‚Stufen‘, von Hermann Hesse. Da geht es auch um Abschied und Neubeginn – den Gedichtband hast du ja gefunden. ‚Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt, und der uns hilft…‘
Lieber Benny, sicher hast du auch Balthasars Kiste gefunden. Ich habe sie absichtlich zum Angelzeug gestellt, weil ich wusste, du würdest nach der Angel suchen. Balthasar ist unser Vorfahre. In unserer Familie hat man immer gesagt, dass es ein Geheimnis gibt, das mit Balthasar verbunden ist. Aber niemand wusste etwas Genaueres darüber. Vor Kurzem habe ich Balthasars Kiste am Dachboden entdeckt. Vielleicht hilft der Inhalt dieser Kiste, Balthasars Geheimnis zu lüften – ich weiß es nicht, ich konnte das Geheimnis nicht lösen. Aber ich habe sofort an dich gedacht, Benny. Die Spurensuche nach unserem Vorfahren könnte der Zauber sein, der dich beschützt und der dir hilft und den du für deinen Neuanfang brauchst. Ich wünsche es dir so sehr!
Lieber Benny! Auch ich werde bald Abschied nehmen und auf einen neuen Anfang zugehen. Ich bin sehr krank und schon ein bisschen müde. Meinem Neubeginn sehe ich neugierig entgegen, ich kann den Zauber jetzt schon ahnen. Sei also nicht traurig! Sag das bitte auch den anderen. Ich liebe euch und bin sicher, ich werde immer um euch sein. In Liebe – dein Opa Burkhard
PS: die beste Stelle für Forellen ist am Zellbach in der Biegung nach der Martinsbrücke. Petri Heil, dein Opa
Benny wischte sich ein paar Tränen von den Wangen. „Ach, Opa, ich hab dich auch sehr lieb.“ Benny hörte die Eingangstüre. Berni krähte fröhlich ‚die Oma fährt im Hühnerstall Motorrad, joladiöööö‘. Benny musste lachen, das war bestimmt ein Hit der fidelen Zelltaler. Es klopfte an seiner Türe. Benedikt steckte den Kopf zur Türe herein. „Na, mein Großer, alles okay?“. „Papa, ich muss dir was zeigen“, sagte Benny aufgeregt und hielt Benedikt den Brief hin. Auch Benedikt wischte sich Tränen von der Wange, als er fertig gelesen hatte. „Er fehlt mir so“, sagte er. „Was wirst du jetzt machen, Benny?“. „Das Geheimnis lüften, ist doch klar.“
© Annemarie Hülber 2024-08-14