von MISERANDVS
Opa erzählte gern vom Krieg, wenn die Sprache drauf kam. Und die Sprache kam oft drauf, wenn ich bei ihm war. Vermutlich waren Opas Kriegsgeschichten auch geschönt, wie Seemangeschichten. Aber keine davon war erfunden – so viel stand fest.
Als der Krieg vorbei war, da fehlte es den Menschen an so gut wie allem. Opa fehlte zusätzlich auch noch ein Bein. Das hatte er in Russland gelassen – keineswegs freiwillig, wie er berichtete. “Als wir nach vorne stürmten gegen den Ivan, da spürte ich auf einmal einen Schlag am Schienbein. Und ich hab mir nichts dabei gedacht. Ein Ast vielleicht, der dagegen geschlagen hatte. Und als wir dann zusammenhockten, und uns sammelten, wollte ich mir den Stiefel ausziehen, doch der ging nicht ab. ‘Kamerad! Zieh zieh mir mal den Stiefel aus!’, sagte ich da zu einem, und der zerrte mir den Stiefe ab. Das Blut rann nur so aus dem Leder. Da hatte mir der Ivan doch tatsächlich einen Steckschuss ins Schienbein verpasst!“ Opa lachte amüsiert.
“Ja, und ein paar Tage später, da machte es auf einmal neben uns ”PADAUZ!“, und wir flogen durch die Luft. Als ich mich aufgerappelt hatte, wollte ich wieder losrennen, fiel aber gleich wieder hin. Da hatte mir eine Granate mein Bein abgerissen – noch dazu das ohne Einschussloch. Da haben sie mich eingepackt und aufs Lazarett-Schiff gebracht. Als ich wieder zu mir kam, da lagen wir alle eng an eng in Betten. Mir ging es richtig schlecht. Und der Sauhund neben mir, auch frisch amputiert, der hat eine nach der anderen gequalmt und dauern Witze erzählt, und ich konnte nicht lachen, weil mein Stumpf so weh tat. Und als ich am nächsten Morgen wach werde, ist mein Bett ganz nass. Ich fasse an den Stumpf und hab die Flossen voller Blut. Da brülle ich nach der Schwester und die nimmt den Verband ab. War aber alles in Ordnung. Sie schlägt die Decke vom Nachbarn zurück, und da war der arme Hund trotz seiner Witze über Nacht verblutet.“ Opa fasste an seine Prothese und steckte sich noch eine an.
“Eines Tages musste ich dann zur Entnazifizierung. Die Tür geht auf, und an einem langen Tisch hocken sie alle da. Der Ivan, der Ami, der Tommy, der Franzmann und ein paar Marionetten von uns. Und auf dem Boden liegt eine riesige Hakenkreuzfahne. Also hopse ich mit meinen Krücken drum herum und stelle mich vor den Tisch. Der Ivan, so ein dicker Goldfasan, fängt an zu brüllen. ‘Sie sollen über die Fahne gehen!’ wird mir übersetzt. Ich blicke mich um, sage: ‘Darauf trete ich nicht. Das ist für mich ein Heiligtum.’ Der Ivan bekommt es übersetzt. Er steckt sich eine Zigarette an, sieht mir lange in die Augen und ich ihm, dann schaut er auf mein Bein und fängt an zu lachen. Er greift zu seinem Stempel und haut ihn donnernd auf ein Papier, das er mir reicht. Und er winkt, ich solle verschwinden. Hab ich dann auch gemacht, bevor der sich das noch anders überlegt und mich an die Wand stellen lässt.“ Opa grinste schelmisch.
Der Krieg war für Opa – in Summe – eine tolle Zeit. Nur die entsetzlichen Phantomschmerzen danach fand er nicht so toll.
© MISERANDVS 2021-05-04