Punk-Rock take-off (5/17)

von Jasmin Stahl

Story
Bayern 2002 – 2003

Wir ziehen in eine kleinere Wohnung gegenüber vom Bahnhof. Ich bin etwa 13 Jahre jung und steige in die Pubertät ein. Danilo wohnt in dieser Lebensphase beim Schlägerbruder in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Ich kann die Fenster meiner Brüder sehen, denn nur der Hinterhof trennt uns. Beide gehen sich aus dem Weg. Danilo bekommt nur wenig mit von dem, was mir alles bevorsteht. Nach dem Beginn der Blütezeit meiner Jugend finde ich mich bei den Punks wieder. Ich fühle mich aufgekratzt wie eine verschrumpelte alte Pizza. Geborgen. Dem Alkohol stark zugeneigt, bleibt mir nur ein Doppelleben. „Ich treffe mich zum Lernen für die Schule“, lüge ich. Parkbesäufnisse, Konzerte und Kotzorgien füllen mein Leben. Der Geruch von verschüttetem Bier, versifften Lederjacken und Haarbleichmittel begleitet mich von nun an. Das fühlt sich gut an. Das ist Family.

Punker-Kids und Parkpenner zeichnen das Bild der Grünanlage. Das Bier fließt in Strömen und dann kommt die geniale Idee, den Einkaufswagen den Hügel hinunterzuschubsen. Wir sitzen in dem Metallkorb auf Reifen und rasen in Zeitlupe auf einen Baum zu. Eine Wurzel wirft uns um und meine Freundin hat einen Arm weniger – der Knochen ragt raus wie eine Trophäe. Den Abend verbringe ich im Gegensatz zu ihr im Park, denn sie ist im Krankenhaus. Ein Joint lindert meine unterschwelligen Schmerzen. Zu Hause bei „der Alten“ lege ich mir ein kaltes Handtuch um und verheimliche ihr den Vorfall, so wie ich ihr alles verheimliche aus meinem Erleben. „Im Sportunterricht bin ich beim Basketball hingefallen.“ Die Ausrede müsste klappen. Sie glaubt es. Wir sind beim Arzt. „Das hier ist ihr Schultergelenk. Es ist gebrochen.“

Nach einer durchzechten Konzertnacht am Bahnhof in Nürnberg sehe ich zwei Punks, die sich mit einer Nähnadel am Hals herumstechen. „Was machstn da?“, frage ich neugierig. „Tätowieren“, entgegnet mir der Bunt-haarige. Dabei tunkt er die Nadel regelmäßig in Tusche. Den Schriftzug „Vogelfrei“ kann ich auf dem Hals erkennen, der fast fertig gestochen ist. „Das kann nicht so schwer sein“ denke ich mir. Zu Hause bei der „Alten“ schnitze ich mir einen Totenschädel auf mein Bein. Socke hoch und versteckt ist das Ding. Es ist schwierig das Tätowieren zu verbergen. In diesem Gefängnis von Zuhause muss ich die Zimmertür offen lassen. Sie läuft immer wieder wie ein Wachhund an meiner offenen Tür vorbei. Wenn sie den täglichen Wärter spielt, der im Knast den Gang abläuft, verdecke ich meinen Fuß. „Was machst du da!?“, schreit sie mich an. „Nichts“ piepse ich. Sie geht weiter. Eine gefälschte Unterschrift später bekomme ich mein zweites Tattoo, im Studio. „Immer gut verdeckt halten“, befehle ich mir wieder. Es ist ein Leben als rebellischer Teenager, der alles geheim halten muss. Kreative Lügen bestimmen meinen Alltag damit ich meine Freunde im Park sehen kann. Dabei muss ich ein Stück weit selbst an meine Märchen glauben. Gleichzeitig darf ich nicht irre werden. Es ist ein Tanz auf dem Vulkan.





© Jasmin Stahl 2024-07-01

Genres
Biografien
Stimmung
Abenteuerlich, Emotional, Komisch, Hoffnungsvoll, Angespannt
Hashtags
Unfall, Lügen, Punk, Doppelleben, Tätowieren