Reise

Heinz-Dieter Brandt

von Heinz-Dieter Brandt

Story

So, diese Kurve noch, dann ist es erst mal wieder geschafft. Habe mich heute wieder mächtig quälen müssen, aber jetzt, wo der Bahnhof in Sicht kommt, kann ich es etwas langsamer angehen lassen. Naja, die alten Pleuelstangen machen es auch nicht mehr, die Lager sind ausgeleiert und die Radreifen schlagen. Nee, ich werde schon noch gewartet, aber eigentlich gehöre ich auf’s Abstellgleis. Schon komisch, je älter ich werde, desto mehr lieben mich die Leute. Sie mögen das allmähliche Anziehen meiner Gestänge, das langsam in Fahrt kommen, ich stoße dann noch ein, zwei Pfiffe aus, bevor es über die Schienen immer schneller geht. Und dann diese Rauchwolke, die ich hinter mir herziehe. Nein, das ist nicht umweltfreundlich, aber es riecht verdammt gut. So richtig nach Zug und Reise und Freiheit.

Früher konnte ich richtig Gas geben, pardon, Dampf machen – ich konnte über 180 „Sachen“ fahren – auf gerader Strecke, mit Reisezugwagen. Mit meinen vielen Pferdestärken, fast 2500 PS, bin ich mit gut 25 bis 30 Personenwaggons über die Schienen gejagt. Hey, wie ist das gelaufen! In den Kurven etwas langsamer, natürlich, wegen der Fliehkräfte, aber nach den Kurven ging’s richtig ab. Und ich bin überall hingefahren, national und international, ans Meer und in die Berge. Was für ein Vergnügen durch die Landschaft zu sausen, immer mit dem gleichen rhythmischen Tackern der Räder, den Blick nach vorne gerichtet, vorbei an Häusern, Schranken, Autos, vorbei an Feldern, Wäldern, Seen und … Menschen und alle winkten mir zu. Ach, wie ich meine Unabhängigkeit liebte. Und dann die Tunnel – zuerst ein großes schwarzes Loch und hinein ging’s – manchmal unheimlich, aber wenn am Ende Licht kam, pfiff ich glücklich wieder raus. Jetzt ist die Zeit vorbei. Vielleicht noch ein, zwei Jahre und dann? Neulich sprachen zwei Leute mit rotblauen Mützen über mich. „Die verschrotten wir nicht. Der Stolz unserer Bahn. Die kommt ins Museum.“ Schön, wenn es ein Gnadenbrot für mich gibt. Ich habe es verdient.

„Bernd, hilf mir mal, ich krieg das Miststück nicht zu!“ Wie redet die mit mir, ich gebe mir ja Mühe, aber was soll das alles, wo fahren wir denn hin? Eigentlich fahren wir in den Sommerurlaub, stattdessen packt sie viele Pullover und Stiefel ein. Und dann die vielen Kosmetika! Für den Strand! Hätte auch den anderen Koffer nehmen können, mit dem St. Moritz-Zeichen, den für den Winter, aber sie will angeben und nimmt den mit dem Nizza-Zeichen drauf. Hey du, sei vorsichtig und hör auf nach Bernd zu brüllen, schau lieber was der im Koffer hat, auch vieles doppelt, das will er doch nicht deinetwegen einpacken, eher wegen der Aussicht auf was „Frisches“ in Nizza … Aua, du reißt am Verschluss. Siehst du nicht die Beule? Ich kann mich nicht dünner machen und glaubst du wirklich, dass der Reißverschluss alles zusammenhält, mach lieber noch einen Gurt drüber … du musst mich schleppen und ich verspreche dir, ich werde mich richtig schwer machen.

„Nu komm Bernd, die Reise geht los, der ICE wartet nicht, wenn wir nur erstmal sitzen … endlich … Aber, hey, sag mal, schau mal auf die andere Bahnsteigseite … Was ist das denn, hast du so eine Lok schon mal gesehen, Nostalgie pur, wie gerne würde ich mal mit der fahren. Das ist doch eine richtige Eisenbahn, so geil!“

© Heinz-Dieter Brandt 2025-04-07

Genres
Reise
Stimmung
Emotional