Rot

Evelyn Weyhe

von Evelyn Weyhe

Story

Ich fahre und sinniere darüber, erinnere mich an die Lektion im ersten Schulbuch meiner Tochter, „Tut, tut, tut, ein rotes Auto kommt“ oder ihr spanisches Kinderbuch „El coche rojo“. Irgendwann verschwanden die roten und machten Platz für coole, elegante Farben wie Silbergrau, Beigemetallic, Schwarz oder Weiß.

Noch mehrere Stunden Fahrt liegen vor mir. Ich habe kein Ziel, möchte aber vor Einbruch der Dunkelheit einen schönen Stellplatz für mein Wohnmobil gefunden haben. Müdigkeit kriecht in mich hinein, umhüllt mich, an meinen Augenlidern scheinen Bleigewichte zu hängen.

Ich beginne alle roten Autos zu zählen, nach Automarken zu sortieren, Herkunftsorte zu erhaschen. Warum beschäftigt mich das so? Und wieder eines im Rückspiegel, ein Audi, gefolgt von einem Peugeot. Von vorne ein roter VW Bus, im rechten Spiegel nähert sich ein rotes Cabriolet. Ich sehe im wahrsten Sinne des Wortes rot. Ich versuche, nicht daran zu denken, schalte das Radio an, Chris de Burgh singt „Lady in Red“. Drehe ich jetzt durch? „Für mich soll´s rote Rosen regnen“, summe ich vor mich hin. Ich denke über die Farbe Rot nach und suche Begriffe wie Kirschrot, Blutrot, Erdbeerrot, Rotkohl, Rosenrot, Scharlachrot, Karmesinrot, Rotkehlchen. Rot, die Farbe der Liebe, Leidenschaft, aber auch Energie, Wärme. Mehr und mehr rote Autos rasen an mir vorbei in alle Richtungen, sie verfolgen mich. Panik erfasst mich, ich gebe Gas, um ihnen zu entfliehen. Sie lassen sich nicht abschütteln, jetzt gibt es keine andersfarbigen Autos mehr, nur rot, alles rot.

Ein roter Porsche braust mit hoher Geschwindigkeit an mir vorbei und verschwindet am Horizont der Autobahn. Ein Schild taucht auf, noch fünfzehn km bis zur nächsten Tankstelle, das schaffe ich.

Ich sehe die Rauchwolke von Weitem, ein Stau entsteht, Polizei mit Blaulicht und Ambulanzfahrzeuge fahren vorbei. Ein rotes Feuerwehrauto mit heulender Sirene versucht sich einen Weg an der roten Autoschlange vorbei zu bahnen. Mir fallen die Augen zu. Irgendwann geht es weiter. Kurz vor der Tankstelle liegt der rote Porsche fast ausgebrannt auf dem Dach. Das Ambulanzfahrzeug und die Polizei sind fort. Ein rotes Käppi liegt am Straßenrand. Rotes Blut überall, alles rot.

Ich schreie und fahre herzklopfend aus meinem Traum hoch. Die roten Autos, der Unfall, wo bin ich? Es ist dunkel. Ich stehe mit meinem Wohnmobil auf dem Parkplatz einer Tankstelle und liege auf meinem Bett. Traum und Wirklichkeit vermischen sich. Mein Herz schlägt unregelmäßig und heftig. Mit zitternden Knien stehe ich am Herd und koche Tee. Die Traumbilder sind noch so präsent, dass ich mich nur langsam beruhige.

Ein rotes Auto im Traum symbolisiert Glück und Erfolg, aber auch den Rausch der Freiheit, als Symbol der Unabhängigkeit und Energie, lese ich kurz darauf bei meiner Tasse Tee auf Google.

Ich verbanne die schwarze Wolke aus meinem Kopf, lege mich wieder hin und spinne den Traum der Freiheit weiter.

© Evelyn Weyhe 2020-10-16

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