von Nick_O
Nach seiner Scheidung war Harry ins Gartenhaus seiner Eltern gezogen, mit ihm sein Schlagzeug, das jahrelang ungespielt im Keller seines Einfamilienhauses gestanden hatte.
Ich packte meine Gitarre ins Auto und fuhr zu ihm in die beschauliche Ortschaft unweit der Stadt, in die meine Wege mich zuvor noch nie geführt hatten. Wir wollten an ein paar Liedern arbeiten, die aus meiner Feder stammten.
Über den Häusern hing der Dunst eines trüben Spätsommertages. Bald würde wieder Rauch aus den Kaminen strömen. Die Verheißungen des Sommers würden sich verabschieden und sich als Geborgenheit und Hoffnung unter die Rockschöße der Alltäglichkeit zurückziehen.
Wir tranken Kaffee und sahen uns ein paar Videos zu Rocksongs an, an denen wir uns ein Beispiel nehmen wollten. Danach machten wir uns an die Arbeit. Ich schrubbte auf den sechs Saiten meiner Akustikgitarre die Akkordfolgen, die an guten Tagen wie eine Eingebung über mich gekommen waren, und sang die englischen Texte. Harry suchte auf dem Drumset nach einem passenden Rhythmus, bis alles zu grooven begann. Wir kamen gut voran und hatten eine Menge Spaß.
»Früher hab ich Keyboard gespielt«, erzählte Harry, »und mein Bruder Gitarre. Wenn wir damals weiter gemacht hätten, hätte eine gute Band aus uns werden können.«
»Wenn wir genug proben, dann wird jetzt eine gute Band aus uns«, meinte ich.
Wir probten jede Woche und hatten bald ein ansehnliches Programm aus Eigenkompositionen und Coversongs zusammengestellt. Es lief alles bestens.
Als es draußen kühler wurde, nahm Harry den Holzofen in Betrieb, mit dem man das Gartenhaus im Winter beheizen konnte. Der verbreitete allerdings im Raum nicht nur wohlige Wärme, sondern auch eine Menge Rauch, der sich in den Kleidern festsetzte.
»Wie wärs mit einem Rocksong namens ›Smoke on the Gartenhaus‹«, sagte ich zu Harry.
»Wenn ich in der Früh ins Büro komme, sagt mein Bruder immer, ich würde stinken wie ein Räucherlachs«, meinte Harry nur darauf.
Ein paar Wochen, ein paar verrauchte Pullover später spielten wir unsere erste Show vor einem ausgewählten Publikum, das aus zwei Freundinnen bestand. Sie spendeten uns Beifall und jubelten uns zu. Die Songs hätten Potenzial, meinten sie.
Trotz unseres glorreichen Auftritts setzten wir unseren musikalischen Weg nicht mehr lange fort, jedenfalls nicht gemeinsam. Es waren gute Tage, in denen wir mit Zuversicht und großen Plänen einer gemeinsamen Vision folgten. Gibt es etwas Besseres? Aber irgendwann waren sie zu Ende. Harry verließ das Gartenhaus. Es war ja auch nicht dazu gedacht, um auf Dauer dort zu bleiben und aus sich selbst einen schlagzeugspielenden Räucherlachs zu machen.
Das Schlagzeug verkaufte er und zog mit seiner neuen Freundin in ein neues Haus an einen anderen Ort.
Auch ich wendete mich neuen Dingen zu, die mir neue Lieder und neue Visionen bescherten.
© Nick_O 2019-08-02