von Theodor Leonhard
FRIEDA SCHNEIDER 17.10.1880 – 23.9.1958. Jeden Buchstaben und jede Ziffer zeichnete mein Vater kunstvoll mit dem Bleistift in altdeutscher Schrift vor. Dann malte er den Namen der Verstorbenen sehr behutsam und genau mit schwarzer Farbe aus. Mein Vater hatte ein kleines Malergeschäft. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Holzkreuze mit Namen sowie Geburts- und Sterbedatum für den Friedhof zu bemalen. Für mich war das als Kind der Inbegriff einer schönen Schrift. Ich schaute ihm gerne zu und bewunderte ihn, wie er mit absolut ruhiger Hand die Namen aufs Kreuz bringen konnte.
Die ruhige Hand beim Schreiben und die schöne Schrift habe ich nicht von ihm geerbt. Sagen zumindest ein Teil meiner Kinder. Sie tun sich schwer damit zu entziffern, alles zu entziffern, was ich ihnen schreibe. Behaupten sie zumindest. Vor einiger Zeit habe ich einer Kollegin einen Brief geschrieben. Sie hat mir signalisiert, sie hätte lediglich etwa ein Drittel meines Briefs lesen können. Das ist schon deshalb ziemlich untertrieben oder auch übertrieben, weil sie auf ungefähr 90% von dem geantwortet hat, was ich ihr geschrieben habe. Jedenfalls sind Menschen der Meinung, die Lesbarkeit meiner Schrift ließe zu wünschen übrig.
Also schrift-mäßig bestenfalls mäßig etwas von meinem Vater geerbt. Oder? Immerhin bekam ich während meiner ganzen Schulzeit die einzige sehr gute Note im Kunstunterricht, als wir einen Text in altdeutscher Schrift gemalt haben. Mein Vater hat mir dabei noch nicht einmal über die Schulter geschaut.
Vom Vater nur mäßig geerbt bei dieser sau-mäßigen Schrift, wie Manche sie nennen! Oder? Oder spielt dabei eher ein “Schön-Schrift-Trauma” aus der 1. Klasse eine Rolle? Mein Freund Rolf und ich saßen nebeneinander. Oft mussten wir auf unserer Kreidetafel Schönschrift üben. Wenn der Lehrer uns benotete, bekam mein Freund immer eine 2 und ich immer eine 4. Das war die schlechteste Note in der Klasse. Natürlich freute sich Rolf über seine gute Note. Aber er fand es gemeinsam mit mir ungerecht, dass ich immer so schlecht bewertet wurde. Eines Tages vertauschten wir unsere Tafeln. Rolfs Tafel lag da, wo der Lehrer sonst meine Versuche vorfand. Meine Tafel hatten wir am Stammplatz der schönen Schrift meines Freundes platziert. In der Tat: Der Lehrer ist in die “Falle” getappt. Ich bekam für mein Ergebnis eine 2, Rolf für seine Schrift eine 4. Wir haben unseren Lehrer auf die vertauschten Tafeln aufmerksam gemacht und uns über die Notengebung “beschwert”, so gut das für kleine Erstklässler möglich war. Ab da bin ich mir nicht mehr ganz sicher. Aber meine Erinnerung sagt mir: Der Lehrer hat mit uns geschimpft, weil wir ihn “getäuscht und betrogen” haben. Er sei sehr enttäuscht von uns. Er war weit entfernt davon, einen Fehler seinerseits einzugestehen.
Trotzdem schreibe ich sehr gerne handschriftliche Briefe. Und wenn jemand davon ein Drittel lesen kann und mir auf 90% antwortet, dann bin ich ganz zufrieden mit meiner “schönen Schrift”.
© Theodor Leonhard 2022-07-14